Julie oder Die neue Heloise
gäbe, sondern daß auch die größten Uebel weit geringer wären, als es auf den ersten Blick schiene, und, wenn man nur Alles in Rechnung zöge, von dem einzelnen und besonderen Guten weit übertroffen würden. Ich führte Herrn von Wolmar sein eigenes Beispiel an, und das Glück seiner Lage durch und durch fühlend, malte ich sie ihm in so wahren Zügen, daß er selbst davon bewegt schien. Das sind ganz Juliens Verführungskünste, sagte er, mich unterbrechend. Sie setzt immer das Gefühl an die Stelle der Vernunft, und macht es so rührend, daß man sie immer statt aller Widerlegung küssen muß: sollte sie etwa, setzte er lachend hinzu, von ihrem Lehrer in der Philosophie diese Art zu argumentiren gelernt haben?
Zwei Monate früher würde mich dieser Scherz grausam aus der Fassung gebracht haben; aber die Zeit der Verlegenheiten ist vorbei: ich lächelte nun auch meinerseits, und obgleich Julie ein wenig erröthete, schien sie doch nicht verlegener als ich. Wir fuhren fort. Ohne über die Qualität des Bösen zu streiten, begnügte sich Wolmar mit dem Zugeständnisse, welches er wohl machen mußte, daß, wenig oder viel Böses wenigstens vorhanden sei, und aus dem bloßen Vorhandensein desselben folgerte er, daß es der letzten Ursache aller Dinge entweder an Macht oder an Weisheit oder an Güte fehlen müsse. Ich meinerseits suchte den Ursprung des physischen Bösen in der Natur der Materie, und den des moralischen Bösen in der Freiheit des Menschen nachzuweisen. Ich hielt ihm vor, daß Gott Alles könnte, außer andere Wesen schaffen, die dem seinigen in Allem gleich, und dem Bösen in keiner Weise unterworfen wären. Wir waren eben im lebhaftesten Streit, als ich bemerkte, daß Julie verschwunden war. Rathen Sie, wo sie ist, sagte ihr Mann zu mir, als er sah, daß ich sie mit den Augen suchte. Je nun, sagte ich, sie wird hinausgegangen sein, um ein häusliches Geschäft zu besorgen. Nein, sagte er, sie würde zu keinem anderen Geschäfte die Zeit gewählt haben, die diesem gewidmet ist; es geschieht auch Alles, ohne daß sie mich zu verlassen braucht, und ich sehe sie nie etwas thun. So wird sie in die Kinderstube gegangen sein. Ebenso wenig! Ihre Kinder sind ihr nicht theurer als mein Seelenheil. Nun denn, versetzte ich, so weiß ich nicht, was sie machen mag, ich bin aber überzeugt, daß es etwas Nützliches seinwird. Noch weit weniger, sagte er trocken. Kommen Sie, Sie werden sehen, daß ich recht gerathen habe.
Er schlich leise, ich folgte ihm auf den Zehenspitzen. Wir erreichten die Thür des Cabinets; sie war zu; er warf sie rasch auf. Milord, welcher Anblick! Ich sah Julie auf den Knieen, mit gefalteten Händen in Thränen gebadet. Hastig springt sie auf, trocknet ihre Augen, verbirgt das Gesicht und sucht zu entrinnen. Nie hat man eine solche Verschämtheit gesehen. Ihr Mann ließ ihr nicht Zeit zu entfliehen. Er eilte wie in freudigem Entzücken auf sie zu. Theure Gattin, sagte er, indem er sie umarmte, die Inbrunst deines Gebetes selbst wird zum Verräther an deiner Sache; was fehlt ihm, um wirksam zu sein! Geh, wenn es gehört würde, würde es bald erhört sein. Das wird es, sagte sie, mit dem Tone der Ueberzeugung; Zeit und Stunde weiß ich nicht. Könnte ich es mit meinem Leben erkaufen, keinen Tag desselben würde ich besser angewendet haben, als diesen letzten.
Kommen Sie, Milord, lassen Sie Ihre unglückseligen Schlachten, kommen Sie, und erfüllen eine edlere Pflicht. Zieht der Weise die Ehre, Menschen zu tödten, den Bemühungen vor, die einen Menschen retten können
[Hierher gehört ein langer Brief von Milord an Julie; es wird von diesem Briefe weiterhin die Rede sein; aber ich hatte guten Grund ihn wegzulassen.]
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Sechster Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.
Wie! Auch nach dem Abgang von der Armee erst noch eine Reise nach Paris? Vergessen Sie denn ganz Clarens und seine Bewohnerin? Sind Sie uns weniger theuer als dem Lord Hyde? Sind Sie diesem Freunde notwendiger als denen, welche Sie hier erwarten? Sie zwingen uns, Wünsche zu hegen, die den Ihrigen entgegengesetzt sind, und bringen mich dahin, daß ich wer weiß wie gern Einfluß beim französischen Hofe haben möchte, nur um es durchzusetzen, daß Sie die Pässe nicht erhalten, die Sie von dort erwarten. Indeß folgen Sie Ihrem Herzen, besuchen Sie Ihren würdigen Landsmann. Trotz ihm, trotz Ihnen, werden wir dafür gerächt werden, daß Sie ihn uns vorziehen, und wie viel Vergnügen Ihnen der Aufenthalt bei ihm auch
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