Julie oder Die neue Heloise
welche sie unwillkürlich befällt; jeden Augenblick verstört dieselbe sie von Neuem. Welch ein schrecklicher Gedanke für eine zärtliche Gattin, sich das höchste Wesen als Rächer seiner verkannten Gottheit vorzustellen, zu denken, daß das Glück Dessen, der sie glücklich macht, mit seinem Leben enden soll, und in dem Vater ihrer Kinder nur einen Verdammten zu sehen! Bei diesem furchtbaren Bilde ist die ganze Sanftheit ihres Wesens kaum hinreichend, sie vor Verzweiflung zu schützen, und nur die Religion, welche ihr dir Ungläubigkeit ihres Mannes so bitter macht, giebt ihr die Kraft, es zu ertragen. Wenn der Himmel, sagt sie oft, mir die Bekehrung dieses edlen Mannes verweigert, so habe ich nur noch Eine Gnade von ihm zu erbitten, nämlich, daß er mich zuerst sterben lasse.
Dies, Milord, ist die nur zu gerechte Ursache ihres geheimen Kummers; dies der innere Schmerz, der ihrem Gewissen die Verhärtung eines anderen aufzuladen scheint, und nur um so bitterer wird, je mehr sie Anstrengungen macht, ihn zu verbergen. Der Atheismus, welcher bei den Papisten mit freier Stirne einhergeht, ist gezwungen, sich da zu verstecken, wo die Vernunft erlaubt an Gott zu glauben, wo also den Ungläubigen ihre einzige Entschuldigung genommen ist. Dieses System ist seiner Natur nach trostlos; wenn es Anhänger bei den Großen und Reichen findet, denen es günstig ist, so ist es doch überall dem unterdrückten und elenden Volke ein Abscheu, welches, indem es seine Tyrannen von dem einzigen Zügel, der sie noch mäßigen kann, befreit sieht, sich, zugleich mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, den einzigen Trost, der ihm in diesem gelassen ist, entrissen sieht. Frau v. Wolmar sah ein, welche schlimme Wirkung hier der Pyrrhonismus ihres Mannes machen würde, und wollte vorzüglich auch ihre Kinder vor einem so gefährlichen Beispiel bewahren. Es wurde ihr nicht schwer, einen so wahren, aufrichtigen und dabei bescheidenen, schlichten und von aller Eitelkeit freien Mann, der weit davon entfernt ist, Andern ein Gut rauben zu wollen, dessen Entbehrung er selbst bedauert, zu bewegen, daß er nichts von seinen Ansichten blicken ließe. Er dogmatisirt nie, er geht mit uns zur Kirche, bequemt sich den eingeführten Bräuchen, ohne mit dem Munde einen Glauben zu bekennen, den er nicht hat; er vermeidet den Anstoß, und thut in Bezug auf den gesetzlich eingeführten Cultus Alles, was der Staat von einem Bürger fordern kann.
Seit nun fast acht Jahren, seitdem sie verbunden sind, hat Niemand das Geheimnis? erfahren, außer Frau v. Orbe, der sie es anvertraut haben. Der Schein wird übrigens so gut und ungezwungen gewahrt, daß ich, nachdem ich sechs Wochen mit ihnen in der größten Vertraulichkeit zugebracht, auch nicht die geringste Ahnung davon hatte, und das Verhältniß vielleicht nie durchschaut haben würde, wenn es mir nicht Julie selbst entdeckt hätte.
Mehrere Gründe haben sie dazu bestimmt. Erstlich: welche Zurückhaltung vertrüge sich mit der Freundschaft, die zwischen uns herrscht? Hieße es nicht ihren Kummer ohne allen Zweck vergrößern, wenn sie sich die süße Befriedigung raubte, ihn mit einem Freunde zu theilen? Sodann wollte sie nicht, daß meine Gegenwart länger ein Hinderniß abgäbe, die Unterhaltungen fortzusetzen, die sie sonst mit ihrem Manne oft über einen Gegenstand gehabt hatte, welcher ihr so sehr am Herzen liegt. Endlich, da sie weiß, daß Sie bald herkommen werden, hat sie gewünscht, und ihr Mann hat nichts dawider gehabt, daß Sie im Voraus von ihren Ansichten unterrichtet würden, denn sie verspricht sich von Ihrer Klugheit Hülfe für unsere bisher vergeblichen Anstrengungen und einen Erfolg, wie er Ihrer würdig ist.
Daß sie gerade diese Zeit wählte, um mir ihren Kummer anzuvertrauen, läßt mich übrigens vermuthen, daß sie dabei auch noch einen anderen Grund haben mochte, den sie mir nicht sagt. Ihr Mann ließ uns allein. Unsere frühere Liebe war aus unserm Gedächtnisse noch nicht verschwunden. Wenn sich unsere Herzen einen Augenblick vergessen hätten, so wären wir der Schmach verfallen gewesen. Ich sah recht gut, daß sie dieses Alleinsein fürchtete und sich davor zu schützen suchte, und der Auftritt von Meillerie hat mich in der That belehrt, daß von uns beiden gerade Der, welcher sich am wenigsten mißtraut, die meiste Ursache dazu hätte.
In der ungegründeten Furcht, der sie aus angeborener Schüchternheit nicht entgehen kann, sann sie nun auf Vorsichtsmittel, und fand
Weitere Kostenlose Bücher