Julie oder Die neue Heloise
keines sicherer, als beständig einen Zeugen zu haben, dem sie Ehrfurcht schuldig wäre, und zwar zwischen uns als Dritten den unbestechlichen und furchtbaren Richter selber zu stellen, der die geheimsten Handlungen sieht und der im Grunde der Herzen liest. Sie umringte sich mit der Majestät des Höchsten; ich sah unaufhörlich Gott zwischen ihr und mir. Welche strafbare Begierde hätte eine solche Schutzwehr durchbrechen können? Mein Herz läuterte sich an dem Feuer ihres Eifers, und ich nahm an ihrer Tugend Theil.
Diese ernsten und wichtigen Gespräche nahmen uns fast ausschließlich in Anspruch, so oft wir uns in der Abwesenheit ihres Mannes sahen, und seit seiner Rückkunft nehmen wir sie häufig in seiner Gegenwart wieder auf. Er nahm daran Theil, als wenn von einem Anderen die Rede wäre und ohne unsere Bemühungen verspotten zu wollen, giebt er uns oft Andeutungen, wie wir die Sache mit ihm behandeln sollten. Dies aber macht gerade, daß ich am Erfolg verzweifle; denn wäre er weniger aufrichtig gegen sich selbst, so könnte man das innere Laster angreifen, aus welchem sein Unglaube Nahrung zieht; aber wenn nur davon die Rede sein kann, zu überzeugen, woher sollen wir Aufschlüsse nehmen, die ihm nicht schon bekannt, und Gründe, die ihm bisher entgangen wären? Als ich mit ihm streiten wollte, sah ich bald, daß alle Argumente, zu denen ich greifen mochte, schon zuvor von Julie vergeblich erschöpft waren, und daß meine trockene Behandlungsweise der gewinnenden Sprache des Herzens und der süßen Ueberredung, die aus ihrem Munde strömt, weit nachstehen mußte. Milord, wir werden diesen Mann nie bekehren; er ist zu kalt, und ist nicht schlecht; es geht nicht an, ihn zu rühren; der innere Beweis, der Beweis des Gefühls fehlt ihm, und dieser allein kann alle andern unüberwindlich machen.
Wie viele Mühe sich seine Frau auch giebt, ihm ihre Betrübniß zu verhehlen, er fühlt sie und theilt sie: ein so scharfsichtiges Auge läßt sich nicht täuschen. Dieser verschluckte Gram ist ihm nur noch empfindlicher. Er hat mir gesagt, daß er mehrmals versucht habe, scheinbar nachzugeben, und zu ihrer Beruhigung Ansichten zu heucheln, die er nicht hat; aber solche Niedrigkeit liegt seiner Seele zu fern; durch seine Verstellung würde er Julie auch nicht hintergangen, sondern ihr nur eine neue Qual bereitet haben. Die Offenheit, Freimüthigkeit und herzliche Eintracht, welche für so viel anderweitiges Schlimme entschädigt, würde zwischen ihnen gelitten haben. War dies der Weg, die Besorgnisse seiner Frau zu stillen, daß er sich um einen Theil ihrer Achtung brachte? Anstatt also Verstellung gegen sie zu gebrauchen, sagt er ihr ehrlich, wie er denkt; aber er sagt es ihr schlicht, so fern von Verachtung der gewöhnlichen Meinungen, so wenig mit dem spöttischen Hochmuthe der starken Geister, daß diese traurigen Bekenntnisse Julie mehr betrüben als erzürnen, und daß sie, da es ihr nicht gelingt, ihren Mann für ihre Ansichten und Hoffnungen einzunehmen, sich nur noch eifriger bemüht, sein Leben mit den vergänglichen Freuden zu schmücken, auf deren Genuß er seine Glückseligkeit beschränkt. Ach, sagt sie mit Schmerz, wenn der Unglückliche sein Paradies in diese Welt versetzt, so muß man sie ihm wenigstens so schön und hold als möglich machen
[Wie viel natürlicher ist nicht dieses menschliche Gefühl, als die schauderhafte Verfolgungssucht, welche es sich zu ihrem steten Geschäfte macht, die Ungläubigen zu quälen, als wollte sie sie in diesem Leben schon verdammen und dem Teufel vorgreifen! Ich werde nicht aufhören, es immer wieder zu sagen, daß diese Verfolger keine Gläubigen sind; Bösewichter sind sie.]
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Die Trauer, mit welcher diese Verschiedenheit der Ansichten das Bündniß der beiden Gatten umflort, beweist besser als jedes Andere, welche unüberwindliche Macht Julie über die Herzen besitzt, indem sich dieser Trauer ein gewisser Trost beimischt, den sie allein auf der Welt im Stande ist zu spenden. Alle Gespräche, alle Streitigkeiten Beider über diesen wichtigen Punkt, weit entfernt, je in Bitterkeit, in Hohn, in Zank überzugehen, endigen jedes Mal mit einer rührenden Scene, die Beide einander nur noch theurer macht.
Als sich gestern das Gespräch, wie häufig, wenn wir Dreie allein sind, wieder um diesen Punkt drehte, kamen wir auf den Ursprung des Bösen zu sprechen, und ich bemühte mich zu zeigen, daß es nicht nur nichts absolut und allgemeinhin Böses im Systeme der Wesen
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