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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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hochherzigeren, in jeder Hinsicht achtbareren Menschen als diesen braven Edelmann. Aber die Bizarrerie seiner Vorurtheile ist merkwürdig; seit er sicher ist, daß ich nicht mehr sein Eidam werden kann, thut er mir alle mögliche Ehre an, und wofern ich nur nicht mit ihm verschwägert sein soll, möchte er sich mit Freuden noch unter mich stellen. Das Einzige, was ich ihm noch nicht vergeben kann, ist, daß er, wenn wir allein sind, manchmal den „Philosophen" mit seinen ehemaligen Stunden neckt. Diese Spöttereien sind mir bitter, und ich nehme sie immer sehr böse auf: aber er lacht über meinen Zorn und sagt: „Kommen Sie, wir wollen Drosseln schießen. Genug philosophirt!" Dann ruft er im Vorbeigehen: „Cläre, Cläre, ein gutes Abendbrot für deinen Lehrer, denn ich werde ihm zu Appetit verhelfen." In der That läuft er für sein Alter so rüstig mit seiner Flinte die Weinberge auf und ab, als ich nur kann, und im Schießen übertrifft er mich weit. Was mir eine kleine Rache für seine Neckereien verschafft, ist dies, daß er vor seiner Tochter nicht mehr zu plaudern wagt, und die kleine Schülerin imponirt ihrem Vater selbst nicht weniger als ihrem Lehrer. Ich komme wieder auf unsre Weinlese zurück.
    Die acht Tage, seit uns diese angenehme Arbeit beschäftigt, sind wir kaum zur Hälfte fertig geworden. Außer den Weinen, die zum Verkauf und zum gewöhnlichen Hausbedarf bestimmt sind, und bei denen weiter keine Umstände gemacht werden, als daß man sie mit Sorgfalt ausliest, bereitet die wohlthätige Fee andere feinere für uns Trinker, und ich helfe bei den magischen Operationen, von denen ich Ihnen gesagt habe, vermittelst deren von demselben Weinberge Weine aller Länder gewonnen werden. Zu dem einen läßt sie die reife Traube, nachdem man sie abgedreht, auf dem Stocke an der Sonne trocknen; zu dem andern läßt sie die Beeren abkappen und von den Körnern befreien, ehe sie in die Kufe kommen; zu einem dritten läßt sie rothe Trauben vor Sonnenaufgang pflücken und sie noch mit ihrem Thau und Duft bedeckt vorsichtig zur Kelter tragen, um weißen Wein daraus zu pressen. Sie bereitet einen süßen Wein, indem sie in den Fässern zu Syrup gekochten Most beimischt; einen herben Wein, indem sie die Gährung verhindert, einen Absynthwein
[In der Schweiz trinkt man viel Absynthwein und macht im Allgemeinen, da die Alpenkräuter besser sind als in der Ebene, oft Gebrauch von Aufgüssen.]
für den Magen, einen Muskatwein mit Kräutern. Alle diese verschiedenen Weine haben ihre besondere Bereitung; jede dieser Bereitungsarten ist gesund und natürlich. So weiß sich ein wirthschaftlicher Kunstfleiß die Verschiedenheiten des Bodens zu ersetzen, und vereinigt zwanzigerlei Himmelsstriche an Einem Orte.
    Sie können sich nicht denken, mit welchem Eifer, mit welcher Fröhlichkeit Alles gethan wird. Man singt, man lacht den ganzen Tag, und die Arbeit geht nur desto besser. Alles lebt in der größten Vertraulichkeit: alle Welt ist einander gleich, und doch vergißt sich Niemand. Die Damen sind ohne Manieren, die Bäuerinnen gesittet, die Männer lustig, ohne täppisch zu sein.
    Es ist ein Wetteifer, wer die besten Lieder singe, wer die besten Geschichtchen erzähle, wer die besten Witze mache. Die Eintracht selbst erzeugt lustige Zänkereien, und man hänselt sich gegenseitig nur, um zu zeigen, wie sehr man einer des andern gewiß ist, Es wird nicht etwa hinterher nach Hause gegangen, um sich's bequem zu machen, nein, der ganze Tag wird auf dem Weinberge zugebracht, Julie hat eine Bude aufschlagen lassen, wo man sich wärmt, wenn Einen friert, und Zuflucht sucht, wenn Regen fällt. Wir essen mit den Bauern zu ihrer Stunde, wie wir mit ihnen arbeiten. Der Hunger würzt uns ihre etwas grobe aber gute, gesunde und mit guter Zukost verdickte Suppe. Man rümpft nicht die Nase über ihre linkischen Manieren und ihre bäuerischen Complimente: damit sie sich wie zu Hause fühlen, läßt man sich ungezwungen mit ihnen gehen. Ihnen entgeht es nicht, daß man hierin eine Gefälligkeit für sie hat, sie sind dankbar dafür, und indem sie sehen, daß man ihretwegen von seinem Platze herabsteigt, sind sie desto williger, sich an dem ihrigen zu halten. Zum Mittagessen werden auch die Kinder mitgebracht und bringen dann den übrigen Tag auf dem Weinberge zu. Wie freuen sich diese wackern Bauersleute, wenn sie ankommen! Ihr glücklichen Kinder, sagen sie, indem sie sie in ihre derben Arme pressen, möge der gütige Gott euch viele

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