Julie oder Die neue Heloise
Tage schenken, die er uns abzieht! Werdet euern Eltern ähnlich, und seid wie sie der Segen des Landes! Oft, wenn ich daran denke, daß die meisten dieser Leute die Waffen getragen haben, und den Säbel und die Muskete eben so gut zu führen wissen als das Rebmesser und die Hacke, wenn ich Julie mitten unter ihnen so reizend und so geachtet, sie und ihre Kinder von ihnen mit so rührendem Jubel empfangen sehe, so gedenke ich der erhabenen und tugendhaften Agrippina, die ihre Söhne den Truppen des Germanicus zeigt. Julie, unvergleichliches Weib, du übst in der Einfachheit des Privatlebens die gewaltige Herrschaft der Weisheit und der Wohlthaten, du bist dem ganzen Lande ein theures heiliges Unterpfand, das Jeder mit seinem Blute vertheidigen und erhalten würde. Und du lebst sicherer und ehrenvoller inmitten einer ganzen Bevölkerung, die dich liebt, als die Könige von allen ihren Soldaten umringt.
Am Abend kommt Alles wieder fröhlich zusammen, die Arbeitsleute werden die ganze Zeit der Weinlese hindurch beköstigt und behaust, und selbst Sonntags nach der Nachmittagspredigt versammelt man sich mit ihnen, und es wird bis zum Abendessen getanzt. Auch an den andern Tagen trennt man sich nicht von ihnen, und in's Haus verfügt sich nur der Baron, der nie zu Abend ißt, und früh zu Bette geht, und Julie, welche mit ihren Kindern bei ihm bleibt, bis er sich schlafenlegen will. Dies abgerechnet, wird von dem Augenblicke an, wo die Weinbergsarbeit angegriffen wird, bis zu dem Augenblicke ihres Aufhörens nichts Städtisches mehr in das ländliche Leben eingemischt. Diese Saturnalien sind weit angenehmer und vernünftiger als die der Römer. Die künstliche Umkehrung der Stände, welche bei diesen gebräuchlich war, enthielt Nichts, was für Herren oder Sklaven hätte lehrreich sein können. Die schöne Gleichheit aber, welche hier herrscht, stellt die natürliche Ordnung wieder her, ist lehrreich für die einen, tröstlich für die anderen und ein Freundschaftsband für Alle
[Wenn hieraus eine allgemeine festliche Stimmung entspringt, die nicht minder süß für Die ist, welche herabsteigen, als für Die, welche heraufsteigen, folgt nicht daraus, daß es fast gleichgültig ist, welchem Stande man angehöre, vorausgesetzt, daß man manchmal heraustreten könne und wolle? Die Bettler sind unglücklich, weil sie beständig Bettler, die Könige, weil sie beständig Könige sind. Die mittleren Stände, aus denen man leichter heraustritt, bieten Freuden dar, die sowohl über als unter ihnen sind; die Einsichten Derer, welche in ihnen leben, erweitern sich daher auch, indem sie Gelegenheit geben, mehr Vorurtheile kennen uu lernen und mehr verschiedene Stufen unter einander zu vergleichen. Dies ist wie mir scheint, der Hauptgrund, warum man gemeinlich in den mittleren Lebensverhältnissen die glücklichsten und verständigsten Menschen antrifft.]
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Der Versammlungsort ist ein alterthümlicher Saal mit großem Kamin, worin ein gutes Feuer unterhalten wird. Den Saal erleuchten drei Lampen, an denen Herr von Wolmar nichts als noch blecherne Blaken hat machen lassen, um den Rauch aufzufangen und das Licht zu verstärken. Um den guten Leuten keine Ursache zum Neide zu geben, hütet man sich, ihnen etwas vor Augen zu stellen, was sie nicht auch bei sich zu Hause haben könnten, und ihnen einen andern Wohlstand zu zeigen, als den, daß man gemeine Dinge gut und etwas reichlicher hat. Zum Abendessen sind zwei lange Tafeln gedeckt: da herrscht kein Luxus und festlicher Aufputz, aber Fülle und Frohsinn. Alle Welt setzt sich zu Tische, Herrschaft, Tagelöhner, Hausleute; Jeder ohne Unterschied steht auf, um zu bedienen, Niemand ist davon ausgeschlossen. Niemand hat einen Vorzug, und Jeder verrichtet das Seinige mit Lust und mit guter Manier. Man trinkt so viel man mag, die Freiheit hat keine anderen Schranken, als den Anstand. Die Gegenwart der so hoch verehrten Herrschaft hält alle Welt im Zügel, ohne zu verhindern, daß man sich ungezwungen fühle und fröhlich sei. Kömmt es einmal vor, daß einer sich vergißt, so stört man das Fest nicht durch Verweise, sondern er wird am andern Morgen unwiderruflich fortgeschickt.
Ich mache mich auch lustig nach Landesart, und wie es die Zeit mit sich bringt. Ich nehme mir wieder die Freiheit auf Walliserisch zu leben und ziemlich oft reinen Wein zu trinken, aber ich trinke keinen, den mir nicht eine der beiden Cousinen einschenkt Sie machen es sich zum Geschäft, meinen Durst nach meinen
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