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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Kräften zu regeln und mit meiner Vernunft hauszuhalten. Wer verstünde sich auf deren Verwaltung besser als sie, und besäße mehr die Kunst, sie mir zu rauben und sie mir wiederzugeben? Wenn nach den Mühen des Tages, und bei der langen Dauer und großen Fröhlichkeit des Mahles der Wein, von diesen geliebten Händen eingeschenkt, auch kräftiger wirkte, so trage ich doch kein Bedenken, Alles, was ich auf dem Herzen habe, frei von den Lippen strömen zu lassen: ich brauche ja nichts mehr zu verschweigen, habe ja nichts, das in Gegenwart des verständigen Wolmar nicht laut werden dürfte. Ich kann furchtlos sein scharfes Auge im Innersten meines Herzens lesen lassen, und wenn etwa ein zärtliches Andenken wieder erwachen will, so kommt ihm flugs ein Blick von Clara in die Quere, oder ein Blick von Julie macht mich schamroth.
    Nach dem Abendessen wird noch eine Stunde oder zwei aufgeblieben, um Flachs zu brechen, wobei jeder der Reihe nach sein Lied singt. Manchmal singen die Winzerinnen alle zusammen im Chor oder auch abwechselnd Solo und Refrain. Die meisten dieser Lieder sind alte Romanzen, deren Melodien nichts Pikantes haben, aber etwas Alterthümliches und Süßes, das auf die Länge das Herz bewegt. Die Worte sind einfach, naiv, oft traurig, gefallen Einem aber. Wir können nicht umhin, Clara zu lächeln, Julie zu erröthen, ich zu seufzen, wenn wir in den Gesängen Wendungen und Ausdrücke wiederfinden, deren wir uns ehemals bedient haben. Dann, indem mein Blick auf die Cousinen fällt, indem ich mich der vergangenen Zeiten erinnere, ergreift mich ein Beben; eine unerträgliche Last fällt mir plötzlich auf's Herz und hinterläßt mir ein banges, wehmüthiges Gefühl, das sich nur mit Mühe wieder verwischt. Ich finde indessen an diesen Abendunterhaltungen eine Art Reiz, den ich Ihnen nicht erklären kann, obgleich ich ihn sehr lebhaft fühle. Die Vermischung der verschiedenen Stände, die Einfachheit der Beschäftigung, der Gedanke, von der Arbeit behaglich auszuruhen, die Eintracht und Stille, das Gefühl von Frieden, welches sie in der Seele erweckt, das Alles bringt schon eine weiche Stimmung hervor, in welcher man desto mehr geneigt ist, jene Gesänge anziehend zu finden. Der Einklang der Frauenstimmen ist auch nichtohne Süßigkeit; ich wenigstens bin überzeugt, daß von allen Harmonien keine so angenehm ist, als der Gesang im Unisono, und daß wir nur deshalb Accorde verlangen, weil unser Geschmack verwöhnt ist. In der That, liegt nicht die ganze Harmonie in jedwedem Ton? Und was könnten wir noch hinzuthun, wodurch nicht die Verhältnisse geändert würden, welche von Natur in der relativen Kraft der harmonischen Töne liegen? Werden nicht diese Verhältnisse augenblicklich aufgehoben, wenn wir einige Töne verdoppeln, andere nicht, und sie nicht überall gleichmäßig verstärken? Die Natur hat Alles in der besten Weise, die möglich ist, gemacht; aber wir wollen es noch besser machen, und verderben Alles.
    Bei der Abendarbeit wie bei der Tagesarbeit findet ein großer Wetteifer statt. Gestern wollte ich einen Schelmstreich ausführen, und das zog mir eine kleine Beschämung zu. Da ich im Flachsbrechen nicht sonderlich geschickt, und auch oft zerstreut bin, so wurde ich immer als derjenige angemerkt, der am wenigsten gearbeitet hatte. Dies verdroß mich, und ich zog meinen Nachbarinnen leise einige Stengel mit dem Fuße weg, um mein Pack zu vergrößern. Die unerbittliche Frau von Orbe bemerkte es aber, und gab Julien einen Wink, die, da sie mich auf der That ertappte, tüchtig schalt. Herr Spitzbube, sagte sie zu mir ganz laut, keine Ungerechtigkeit, auch nicht im Spaße! Denn so gewöhnt man sich, daß man im Ernste schlecht wird, und was das Schlimmste ist, sieht das dann auch wieder blos als einen Spaß an
[Diese Bemerkung sollten auch
Sie sich, wie mir scheint, zu Nutze machen, Herr Butterfreund! R.
— Dies geht auf den Grafen von Lastic. Man sehe Bekenntn. Th. 5. S. 100 ff. Die Anspielung konnte Niemand verstehen, als die betheiligte Person selbst, da Rousseau's Briefe noch nicht gedruckt waren, als die Neue Heloise erschien. Aber R. machte öfters dergleichen Anspielungen, die nur für bestimmte Personen Bedeutung hatten, wie zum Beispiel die Anspielung auf Diderot in einer Anmerkung zur Vorrede des Briefes an d'Alembert: über das Schauspiel, s. Bekenntn. Th. 7. S. 16.
]
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    So geht der Abend hin. Wenn es Zeit ist, sich zurückzuziehen, so sagt Frau von Wolmar: Nun wollen wir Feuerwerk

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