Julie oder Die neue Heloise
machen. Sogleich nimmt Jeder sein Packet Flachsstengel, den ehrenvollen Beweis seines Fleißes; Alles wird im Triumphe auf den Hof getragen und zu einer Trophäe aufgeschichtet. Einer zündet den Haufen an; aber nicht Jeder, wer gerade will, hat diese Ehre, sondern Julie sprichtsie durch Ueberreichung der Fackel demjenigen oder derjenigen zu, die diesen Abend das Meiste gearbeitet haben, ohne Umstände auch sich selbst, wenn sie am fleißigsten gewesen. Die erhabene Zeremonie wird mit Geschrei und Händeklatschen begleitet. Die Flachsstengel geben ein helles leuchtendes Feuer, das zum Himmel aufsteigt, ein wahres Freudenfeuer, um welches man springt und lacht. Hierauf wird der ganzen Versammlung zu trinken gereicht. Jeder trinkt auf die Gesundheit des Siegers, und geht schlafen, zufrieden mit einem in Arbeit, Fröhlichkeit und Unschuld verbrachten Tage, den man nicht böse sein würde, morgen, übermorgen und sein ganzes Leben lang zu wiederholen.
Achter Brief.
Saint-Preux an Herrn von Wolmar.
Freuen Sie sich, lieber Wolmar, der Frucht Ihrer Bemühungen. Nehmen Sie die Huldigungen eines gereinigten Herzens an, das Sie mit so vieler Mühe würdig gemacht haben, Ihnen dargebracht zu werden. Nie hat ein Mensch unternommen, was Sie unternahmen, nie ein Mensch versucht, was Sie ausgeführt, nie eine erkenntliche und gefühlvolle Seele gefühlt, was Sie mir zu fühlen gegeben haben. Die meinige hatte ihre Federkraft, ihre Tüchtigkeit, ihr ganzes Sein eingebüßt; durch Sie habe ich Alles wieder erlangt. Ich war der Tugend, wie dem Glücke gestorben; ich verdanke Ihnen das moralische Leben, zu welchem ich mich wiedergeboren fühle. O mein Wohlthäter und mein Vater! Indem ich mich Ihnen ganz übergebe, kann ich Ihnen, wie Gott selbst, nichts Anderes darbringen, als die Gaben, die ich von Ihnen habe.
Soll ich Ihnen meine Schwäche, meine Furcht bekennen? Bis jetzt habe ich mir selbst stets gemißtraut. Noch vor acht Tagen erröthete ich über mein Herz, und glaubte alle Ihre Güte an mir verloren. Dieser Augenblick war hart und entmuthigend für die Tugend; dem Himmel sei Dank, Ihnen sei Dank, er ist vorübergegangen, um nicht wiederzukehren. Ich halte mich nicht mehr nur deshalb für geheilt, weil Sie es mir versichern, sondern weil ich es fühle. Ich habe nicht mehr nöthig, daß Sie für mich einstehen, Sie haben mich in Stand gesetzt, für mich selbst einzustehen. Ich mußte von Ihnen und von ihr getrennt werden, um zu wissen, was ich ohne Ihre Stütze vermöchte. Entfernt von dem Orte, den sie bewohnt, erfahre ich, daß ich mich nicht mehr davor zu fürchten brauche, ihm zu nahen.
Das Nähere über unsere Reise schreibe ich an Frau von Orbe, ich will es Ihnen hier nicht wiederholen. Ich wünsche, daß Sie alle meine Schwächen kennen, aber ich habe nicht die Kraft, sie Ihnen selbst zu sagen. Theurer Wolmar, dies ist mein letzter Fehler: ich fühle mich schon so fern von ihm, daß ich nicht ohne Stolz daran denke, aber er liegt noch so nahe hinter mir, daß es mir doch nicht leicht wird, ihn zu bekennen. Wie sollten Sie, der mir meine Verirrungen verzeihen konnte, mir nicht die Scham verzeihen, die aus der Reue über jene entspringt?
Nichts fehlt mehr zu meinem Glücke, Milord hat mir Alles gesagt. Theurer Freund, ich werde also Ihnen angehören, werde also Ihre Kinder erziehen. Der älteste von Ihren drei Söhnen wird die beiden anderen erziehen. Wie heiß habe ich es gewünscht! Wie hat die Hoffnung, eines so theuern Amtes würdig gefunden zu werden, meine Bemühungen verdoppelt, mich der Ihrigen werth zu zeigen! Wie oft erdreistete ich mich, meinen Eifer in dieser Hinsicht Julien zu erkennen zu geben, und wie legte ich mir mit Freuden oft Ihre Aeußerungen und die ihrigen zu meinen Gunsten aus! Aber obgleich sie meinen Eifer anerkannte und das Ziel desselben zu billigen schien, sah ich sie noch nicht so bestimmt auf meine Absicht eingehen, daß ich gewagt hätte, offener darüber zu sprechen. Ich fühlte, daß diese Ehre verdient, und nicht erbeten sein wollte. Ich erwartete von Ihnen und ihr das Unterpfand eures Vertrauens und eurer Achtung. Ich bin in meiner Hoffnung nicht getäuscht worden, und ihr, meine Freunde, glaubt mir, ihr werdet in der eurigen nicht getäuscht werden.
Sie wissen, daß ich nach unseren Unterredungen über die Erziehung Ihrer Kinder einige Gedanken, zu denen sie mich angeregt hatten, auf's Papier warf, die Ihre Billigung fanden. Seit meiner Abreise haben sich mir weitere
Weitere Kostenlose Bücher