Julie oder Die neue Heloise
Betrachtungen über denselben Gegenstand aufgedrängt, und ich habe das Ganze in eine Art System gebracht, das ich Ihnen, sobald es besser durchgearbeitet sein wird, zur Prüfung mittheilen will. Erst in Rom hoffe ich es soweit bringen zu können, daß es Ihnen vorgelegt werden kann. Dieses System fängt da an, wo das Juliens endet, oder vielmehr es ist nur dessen Fortsetzung und weitereEntwicklung, denn Alles beruht darauf, daß man den natürlichen Menschen nicht verderbe, indem man ihn für die Gesellschaft ausbildet. Ich bin durch Ihre Bemühungen wieder zur Vernunft gekommen; wieder frei und gesunden Herzens, fühle ich mich geliebt von Allem, was mir theuer ist: die reizendste Zukunft liegt vor mir; meine Lage sollte köstlich sein, aber es ist geschrieben, daß meine Seele nie zum Frieden kommen soll. Indem wir uns dem Ziele unserer Reise nähern, sehe ich den Augenblick vor mir, der über das Schicksal meines ausgezeichneten Freundes entscheiden soll, und die Entscheidung ist gewissermaßen mir in die Hände gelegt. Werde ich wenigstens einmal für ihn thun können, was er so oft für mich gethan hat? Werde ich die größte, wichtigste Pflicht meines Lebens würdig erfüllen? Theurer Wolmar, ich trage alle Ihre Belehrungen im innersten Herzen wohlverwahrt; doch ob ich sie recht anzuwenden wissen werde? O, warum konnte ich nicht auch Ihre Klugheit mit mir nehmen! Ach! Wenn es geschieht, daß ich einst Eduard glücklich sehe, wenn sein und Ihr Plan in Erfüllung geht, und wir alle uns vereinigen, um uns nie wieder zu trennen, welcher Wunsch wird mir dann noch übrig bleiben? Ein einziger, dessen Erfüllung weder von Ihnen, noch von mir, noch von irgend Jemand auf der Welt abhängt, sondern von Dem, der den Tugenden Ihrer Gattin einen Lohn schuldet, und der im Verborgenen Ihre Gutthaten zählt.
Neunter Brief.
Saint-Preux an Frau von Orbe.
Wo sind Sie, reizende Cousine? Wo sind Sie, liebenswürdige Vertraute dieses schwachen Herzens, an dem Sie in so vielen Beziehungen Theil haben, und das so oft von Ihnen getröstet ward? Kommen Sie, lassen Sie es heute in das Ihrige das Bekenntniß seiner lehren Verirrungen ausschütten. Ist es nicht immer Ihr Geschäft, es zu reinigen, und kann es sich noch seine Sünden vorwerfen, nachdem es sie Ihnen gebeichtet hat? Nein, ich bin nicht mehr derselbe Mensch, und diese Verwandlung verdanke ich Ihnen; es ist ein neues Herz, das Sie in mir geschaffen haben und das Ihnen seine Erstlinge darbringt; aber ich werde mich nicht eher von dem alten gänzlich befreit glauben, als bis ich es in Ihre Hände gelegt habe. O Sie, die Sie es werden sahen, nehmen Sie seine letzten Seufzer auf!
Hätten Sie es je gedacht? In keinem Augenblicke meines Lebens war ich zufriedener mit mir selbst, als da ich mich von euch trennte. Zurückgekommen von meinen langen Verirrungen, setzte ich mir diesen Augenblick als die späte Epoche der Rückkehr zu meinen Pflichten an. Ich machte endlich einen Anfang damit, die unermeßlichen Schulden der Freundschaft zu bezahlen, indem ich mich einem so geliebten Aufenthalte entriß, um einem Wohlthäter zu folgen, einem Weisen, der sich stellte, als bedürfe er meiner Hülfsleistungen, während er nur den Erfolg der seinigen auf die Probe stellen wollte. Je schmerzlicher mir der Abschied war, desto mehr machte ich mir eine Ehre aus solchem Opfer. Nachdem ich die Hälfte meines Lebens an die Unterhaltung einer unglücklichen Leidenschaft verschwendet hatte, widmete ich die andere Hälfte der Bemühung, sie zu rechtfertigen, Derjenigen, die so lange die Huldigungen meines Herzens empfangen hatte, eine würdigere durch meine Tugenden darzubringen. Ich bezeichnete kühnlich diesen Tag als den ersten, an welchem ich weder Ihnen, noch ihr, noch Allem, was mir theuer war, Ursache gab zu erröthen.
Milord Eduard hatte sich vor der Rührung des Abschiedes gefürchtet, und wir wollten unbemerkt aufbrechen; aber während Alles noch schlief, konnten wir Ihre wachsame Freundschaft nicht hintergehen. Als ich Ihre Thüre halb offen und Ihre Kammerfrau auf der Lauer, als ich Sie uns entgegenkommen sah, und wir eintraten und einen Theetisch in Bereitschaft fanden, erinnerte mich die Aehnlichkeit der Umstände an andere Zeiten, und indem ich diese Abreise mit jener verglich, deren Erinnerung in mir geweckt wurde, fühlte ich mich so verschieden von meinem damaligen Zustande, daß ich mir Glück wünschte, Eduard zum Zeugen zu haben, und mir Hoffnung machte, in Mailand den
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