Julie oder Die neue Heloise
unwürdigen Auftritt von Besançon in Vergessenheit zu bringen. Nie hatte ich mich so muthig gefühlt; ich wollte damit vor Ihnen prahlen, eine Festigkeit recht zur Schau tragen, die Sie an mir nicht gewohnt waren; ich that mir viel darauf zu Gute, beim Abschiede Ihnen einen Augenblick so zu erscheinen, wie ich für die Zukunft mir vorgenommen hatte zu sein. Dieser Gedanke erhöhte meinen Muth: die Achtung, in die ich mich bei Ihnen setzen wollte, meine Kräfte: ich würde Ihnen vielleicht mit trockenem Auge Lebewohl gesagt haben, wenn Ihre Thränen, die über meine Backen flossen, die meinigen nicht gezwungen hätten, sich mit ihnen zu vermischen.
Ich schied, das Herz voll von allen meinen Pflichten, durchdrungen besonders von denen, die Ihre Freundschaft mir auferlegt, und fest entschlossen, den Rest meines Lebens dazu anzuwenden, diese zu verdienen. Eduard ging mit mir alle meine Fehler durch, und hielt mir ein Gemälde vor Augen, das nicht geschmeichelt war; an der gerechten Strenge, mit welcher er meine große Schwachheit rügte, sah ich, daß er nicht sehr fürchtete, sich selbst dergleichen zu Schulden kommen zu lassen. Indessen that er doch so, als hege er diese Furcht: er sprach mit Unruhe über seine Reise nach Rom und über die unwürdige Liebschaft, die ihn wider Willen dorthin zöge; aber ich konnte mir leicht denken, daß er seine eigenen Gefahren übertrieb, um mir mehr damit zu thun zu geben, und mich desto mehr von denen abzuziehen, denen ich ausgesetzt war.
Als wir nahe bei Villeneuve waren, stürzte ein Lakai, der ein schlechtes Pferd ritt, und trug eine leichte Quetschung am Kopfe davon. Sein Herr ließ ihm die Ader schlagen und beschloß die Nacht dort zu bleiben. Nachdem wir zeitig zu Mittag gegessen hatten, nahmen wir Pferde, um nach Ber zu fahren und die Saline zu besehen. Milord war daran gelegen, die Einrichtungen dort genau kennen zu lernen, und ich nahm die Maße und eine Zeichnung von dem Gradirhause auf: es war Nacht, als wir wieder in Villeneuve ankamen. Nach dem Abendessen plauderten wir bei einem Glase Punsch, und blieben ziemlich spät auf. Er belehrte mich hier über das, was ich für ihn thun sollte, und setzte mich von Allem in Kenntniß, was geschehen war. Sie können denken, wie lebhaft mich diese Mittheilungen beschäftigten; ein Gespräch dieser Art war nicht dazu angethan, mir Lust zum Schlafen zu machen.
Als ich das mir bestimmte Zimmer betrat, erkannte ich darin das nämliche, welches ich damals, als ich nach Sion ging, inne gehabt hatte. Bei diesem Anblick fühlte ich eine innere Bewegung, die ich Ihnen schwer wiedergeben könnte. Ich war so lebhaft davon ergriffen, daß ich im Augenblicke ganz wieder der Mensch von damals zu sein glaubte; zehn Jahre waren wie aus meinem Leben gestrichen, und all mein Unglück vergessen. Ach! dieser Wahn war kurz; der nächste Augenblick gab mir nur desto überwältigender die Last aller meiner alten Leiden zurück. Was für traurige Betrachtungen folgten der ersten Bezauberung! was für schmerzliche Vergleichungen boten sich meinem Geiste dar! Reize der ersten Jugend, Wonne der ersten Liebe, was soll ich euch wieder auffrischen in diesem Herzen, das von Kummer überwältigt und sich selbst zur Last ist? O Zeit, glückliche Zeit, du bist nicht mehr! Ich liebte, ich wurde geliebt. Ich überließ mich in dem Frieden der Unschuld den Entzückungen einer Liebe, die getheilt wurde; ich schlürfte in langen Zügen das köstliche Gefühl, das mir Leben gab. Der süße Nebel der Hoffnung berauschte mein Herz, eine Trunkenheit, eine Begeisterung, eine Raserei riß alle meine Kräfte hin. Ha, auf den Felsen von Meillerie, mitten in Winter und Eis, furchtbare Abgründe vor den Augen, welches Wesen auf der Welt genoß eines Looses, das dem meinigen zu vergleichen war? .... Und ich weinte! Und ich fand mich zu beklagen! Und die Schwermuth wagte mir zu nahen! .... Was soll ich denn heute thun, da ich Alles besessen, Alles verloren habe? .... Ich habe mein Elend wohl verdient, da ich mein Glück so wenig zu schätzen wußte .... ich weinte damals .... du weintest .... Unglücklicher, du weinst nicht mehr .... du Hast nicht einmal das Recht zu weinen .... Warum ist sie nicht todt! erkühnte ich mich in einem Ausbruch von Wuth zu rufen: ja, ich würde weniger unglücklich sein; ich würde mich meinen Schmerzen überlassen dürfen; ich würde ohne Gewissensbisse ihr kaltes Grab umfassen; meine Klagen würden ihrer würdig sein; ich würde sagen: sie
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