Julie oder Die neue Heloise
selbst hat? Und wo wird man auf dem Wege des Lasters inne halten, wenn man den ersten Schritt gethan hat, ohne davor zu erschrecken? So würde ich zu jenen Weltdamen sprechen, die sich aus Moral und Religion nichts machen, und kein anderes Gesetz haben, als die Meinung der Leute. Aber du, tugendhafte und christlich gesinnte Frau, die du deine Pflicht erkennst und sie liebst, die du einer andern Richtschnur folgst, als dem öffentlichen Urtheil, deine vornehmste Ehre ist die, welche dir dein Gewissen zuspricht, und daß du diese dir erhaltest, darum ist es zu thun.
Willst du wissen, worin bei dieser ganzen Sache dein Unrecht besteht? Darin, ich muß es dir wiederholen, daß du über ein ehrenwerthes Gefühl erröthest, welches du nur offen zu erklären brauchst, um es zu einem unschuldigen zu machen
[arum läßt der Herausgeber die beständigen Wiederholungen stehen, die in diesem Briefe, wie auch in vielen anderen vorkommen? Aus einem sehr einfachen Grunde, nämlich weil er sich nicht das Geringste daraus macht, daß diese Briefe Denen gefallen, die so fragen.]
. Aber trotz aller deiner Ausgelassenheit giebt es kein so furchtsames Geschöpf als du bist. Du machst Späße, um die Heldin zu spielen, und ich sehe dein armes Herz zittern und beben; du machst es mit der Liebe, über die du dich zum Schein lustig machst, wie die Kinder, die in der Nacht singen, wenn sie Furcht haben.
O theure Freundin, erinnere dich doch, daß du es selbst tausendmal gesagt hast, es ist die falsche Scham, die zu wirklicher Schande führt, und die Tugend kann nur über das erröthen, was böse ist. Ist denn die Liebe an sich selbst ein Verbrechen? Ist sie nicht wie der süßeste, so auch der reinste Hang der Natur? Hat sie nicht ein gutes, löbliches Ziel? Verschmäht sie nicht gemeine und niedrige Seelen? Beseelt sie nicht die, welche groß und stark sind? Adelt sie ihnen nicht alle Gefühle? Verzwiefacht sie nicht ihr Dasein? Erhebt sie sie nicht über sich selbst? Ach, könnte man nicht anders sittsam und verständig sein, als wenn man ihren Pfeilen unerreichbar wäre, sage, was bliebe dann der Tugend auf Erden übrig? Der Auswurf der Natur und das schlechteste Gesindel,
Was hast du denn gethan, das du dir zum Vorwurf machen müßtest? Ist deine Wahl nicht auf einen wackern Mann gefallen? Ist er nicht frei? Bist du es nicht auch? Verdient er nicht deine ganze Achtung? Besitzest du nicht die seinige ganz? Wirst du nicht überglücklich sein, einen Freund zu beglücken, der dieses Namens so würdig ist, mit deinem Herzen und deiner Person die alten Schulden deiner Freundin zu bezahlen, und das vom Glücke mißhandelte Verdienst, indem du es zu dir erhebst, zu ehren?
Ich sehe die kleinen Bedenklichkeiten, die dich aufhalten. Einen gefaßten und ausgesprochenen Entschluß zurückzunehmen, dem Abgeschiedenen einen Nachfolger zu geben, die eigene Schwäche offenkundig zu machen, einen Abenteurer zu heiraten (denn die gemeinen Seelen, die immer so freigebig mit ehrkränkenden Titeln sind, werden bald diesen ausfindig machen): dies sind die Gründe, auf welche hin du dir lieber deinen Hang zum Vorwurf machen, als ihn rechtfertigen, und lieber über deine Liebe im Innersten deines Herzens brüten, als sie zu Ehren bringen willst. Aber ich bitte dich, ist das eine Schande, Den zu heiraten, den man liebt, oder das, ihn zu lieben ohne ihn zu heiraten? Dies ist die Wahl, die du hast. Die Ehre, die du dem Abgeschiedenen schuldig bist, besteht darin, daß du seine Wittwe hoch genug achtest, um ihr lieber einen Gatten, als einen Geliebten zu geben, und wenn deine Jugend dich zwingt seine Stelle auszufüllen, wird nicht auch das eine Huldigung sein, die du seinem Andenken darbringst, wenn du einen Mann wählst, der ihm theuer war?
Was die Ungleichheit des Standes betrifft, so würde ich dich zu beleidigen glauben, wenn ich einen Einwurf bekämpfte, der so erbärmlich ist, wo es sich um Verständigkeit und Sittlichkeit handelt. Ich kenne keine Ungleichheit, die entehrend wäre, außer die, welche aus dem Charakter oder der Erziehung entspringt. Zu welchem Stande ein Mensch von niedrigen Grundsätzen auch gelange, wird es immer schimpflich sein, sich mit ihm zu verbinden: aber ein Mann, der in ehrenwerther Gesinnung aufgezogen ist, steht aller Welt gleich; es giebt keinen Rang, in welchem er nicht an seinem Platze wäre. Du weißt, welcher Meinung dein Vater selbst war, als es sich um mich in Bezug auf unseren Freund handelte. Er ist von anständiger,
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