Julie oder Die neue Heloise
denkst, und wenn ich Zeiten zurückrufen wollte, die vergessen sein sollen, so würde es mir leicht sein, in der Theilnahme, die du nur an mir allin zu nehmen glaubtest, eine nicht minder lebhafte Theilnahme an Dem, der mir theuer war, nachzuweisen. Da du ihn nicht zu lieben wagtest, wolltest du, daß ich ihn liebte; jeder von uns schien dir nothwendig zum Glücke des anderen, und dieses Herz, das auf der Welt nicht seines Gleichen hat, liebte uns beide nur noch zärtlicher. Glaube mir, ohne deine eigene Schwäche würdest du gegen die meinige weniger nachsichtig gewesen sein: eine gerechte Strenge aber würdest du dir unter dem Namen Eifersucht zum Vorwurfe gemacht haben. Du fühltest dich nicht berechtigt, in mir den Hang zu bekämpfen, um dessen Besitzung es zu thun war, und aus Furcht, mehr treulos als vorsichtig zu handeln, glaubtest du genug für die Tugend gethan zu haben, wenn du dein Glück dem unsrigen opfertest.
Meine Clara, dies ist deine Geschichte; so zwingt mich deine tyrannische Freundschaft, dir für meine Schande erkenntlich zu sein, und für meinen Schaden Dank zu sagen. Glaube jedoch nicht, daß ich dir hierin nachahmen will, ich habe nicht größere Lust, deinem Beispiel zu folgen, als du dem meinigen, und da du nicht meine Fehltritte zu fürchten hast, so habe ich, Gott sei Dank, nicht deine Gründe, nachsichtig zu sein. Welchen würdigeren Gebrauch kann ich von der Tugend, die du mir wiedergeschenkt hast, machen, als daß ich dir beistehe, sie dir zu bewahren?
Ich muß dir also noch meine Meinung über deinen jetzigen Zustand sagen. Die lange Abwesenheit unseres Lehrers hat deine Stimmung zu seinen Gunsten nicht verändert; deine wiedererlangte Freiheit und seine Rückkunft haben eine neue Epoche herbeigeführt, die sich die Liebe zu Nutze gemacht hat. Es ist nicht ein neues Gefühl in deinem Heizen entstanden; das, welches so lange darin verborgen lag, hat es sich nur bequemer gemacht. Stolz darauf, daß du es dir selbst zu gestehen wagtest, hast du dich beeilt, es mir zu sagen. Dieses Bekenntniß schien dir fast nothwendig, um dein Gefühl zu einem völlig unschuldigen zu machen: indem es zu einem Verbrechen für deine Freundin wurde, hörte es auf eines für dich zu sein, und vielleicht hat dem Uebel, gegen welches du seit so vielen Jahren kämpftest, dich selbst nur dein Eifer, meine Heilung zu vollenden, ausgeliefert.
Ich habe das Alles gefühlt, meine Liebe; ich machte mir nicht große Unruhe um eine Neigung, die mir zum Schutze diente, während du sie dir nicht zum Vorwurf zu machen brauchtest. Dieser Winter, den wir sämmtlich vereinigt im Schoße des Friedens und der Freundschaft hingebracht haben, erhöhte mein Vertrauen, da ich sah, daß du, weit entfernt von deiner Munterkeit etwas einzubüßen, nur immer heiterer und launiger zu werden schienst. Ich sah dich zärtlich, zuvorkommend, aufmerksam, aber offen in deinen Liebkosungen, wie in deinen Scherzen, unverstellt und ungekünstelt in allen Dingen, und bei allem Tändeln und Kosen gab sich eine so fröhliche Unschuld kund, daß Alles gut war.
Seit unserem Gespräche im Elysium bin ich nicht mehr so zufrieden mit dir, ich finde dich traurig und träumerisch; du bist ebenso gern allein, als bei deiner Freundin; du hast nicht die Sprache geändert, aber den Ton; deine Späße sind schüchterner; du wagst nicht mehr so oft von ihm zu sprechen; es ist als ob du immer fürchtetest, er könnte es hören, und man sieht an deiner Unruhe, daß du auf Nachrichten von ihm weit sehnlicher wartest, als du es durch Fragen verräthst.
Mir ist bange, gute Cousine, daß du nicht fühlst, wie schlimm es mit dir steht, und daß der Pfeil tiefer eingedrückt ist, als du zu fürchten schienst. Auf mein Wort, sondire dein krankes Herz recht; sage dir recht, ich wiederhole es dir, ob man, wenn auch noch so verständig, ohne Wagniß mit dem Geliebten lange zusammenwohnen kann, und ob das Selbstvertrauen, das mich in's Verderben geführt hat, für dich ganz ohne alle Gefahr ist. Ihr seid beide frei: das gerade macht die Gelegenheiten noch verfänglicher; es giebt keine Schwäche, auch in tugendhaften Herzen, welche den bloßen Anstrengungen des Gewissens wiche; ich gebe dir zu, daß man gegen Verbrechen immer stark genug ist, aber ach, wer kann sich hüten, schwach zu sein? Indessen betrachte die Folgen, denke an die Wirkungen der Schande. Man muß sich selbst ehren, um geehrt zu sein. Wie kann man Anderer Achtung verdienen, wenn man keine für sich
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