Julie oder Die neue Heloise
näherte, in's Ohr: Das ist viel gesprochen für eine Kranke! viel Ueberlegung für Jemanden, der sich außer Stande glaubt, zu überlegen.
Ja, sagte sie leise zu mir, für eine Kranke spreche ich zu viel, aber nicht für eine Sterbende; bald werde ich nichts mehr sagen. Was das Ueberlegen betrifft, so thue ich es jetzt nicht mehr, ich habe es früher gethan. Ich wußte in meinen gesunden Tagen, daß ich sterben müßte, ich habe oft über meine letzte Stunde nachgedacht: jetzt kommt mir meine Voraussicht zu gute. Ich bin nicht mehr im Stande zu denken und Entschlüsse zu fassen, ich spreche nur aus, was ich schon gedacht hatte, und handle nach gefaßten Entschlüssen.
Der übrige Tag ging, einige Zufälle abgerechnet, in derselben Ruhe hin, und fast so, als ob alle Welt sich wohlbefände. Julie war, wie bei voller Gesundheit, sanft und liebreich; sie sprach mit demselben Verstande, mit derselben Freiheit des Geistes, sogar mit einer Heiterkeit der Miene, die bisweilen an Fröhlichkeit streifte; kurz, ich bemerkte noch mehr als zuvor in ihren Augen einen gewissen Freudenglanz, der mich immer mehr beunruhigte, so daß ich mich entschloß, mich darüber mit ihr auszusprechen.
Ich that es noch an dem nämlichen Abende. Da sie sah, daß ich dafür gesorgt hatte, mit ihr allein zu sein, sagte sie zu mir: Sie sind mir zuvorgekommen, ich hatte mit Ihnen sprechen wollen. Schön, sagte ich: aber da ich Ihnen zuvorgekommen bin, so lassen Sie mich auch zuerst sprechen.
Nachdem ich mich zu ihr gesetzt hatte, sagte ich, indem ich sie scharf ansah: Julie, meine theure Julie, Sie haben mir das Herz durchbohrt; ach, Sie haben es damit recht spät werden lassen! Ja, fuhr ich fort, als ich bemerkte, daß sie mich mit Erstaunen anblickte, ich habe Sie durchschaut. Sie sterben mit Freuden, Sie sind froh, mich zu verlassen. Erinnern Sie sich, wie sich Ihr Gatte gegen Sie bezeigt hat, seit wir mit einander leben; habe ich eine so schmerzliche Gesinnung von Ihnen verdient? Im Augenblicke ergriff sie meine beiden Hände, und sagte mit dem Tone, der stets die Seele zu treffen wußte:
Wer? Ich? Ich wünsche Sie zu verlassen? So lesen Sie in meinem Herzen? Haben Sie so schnell unser gestriges Gespräch vergessen? Indessen, versetzte ich, Sie sterben zufrieden .... ich habe es wohl erkannt .... Halt! sagte sie; es ist wahr, ich sterbe zufrieden; aber nur daß ich sterbe, wie ich gelebt habe, würdig Ihre Gattin zu sein. Fragen Sie mich nichts weiter, ich werde nichts mehr sagen. Aber hier, fuhr sie fort, indem sie ein Papier unter ihrem Kopfkissen hervorzog, hier werden Sie die völlige Lösung dieses Räthsels finden. Das Papier war ein Brief, und ich sah, daß er an Sie adressirt war. Ich gebe ihn Ihnen offen, setzte sie hinzu, indem sie ihn mir reichte, damit Sie, nachdem Sie ihn gelesen, sich entscheiden, ob Sie ihn abschicken oder unterdrücken wollen, je nachdem Sie es Ihrer Klugheit und meiner Ehre am angemessensten finden. Ich bitte Sie, ihn erst zu lesen, wenn ich nicht mehr sein werde, und ich bin der Erfüllung meiner Bitte so gewiß, daß ich Ihnen darüber nicht einmal ein Versprechen abnehmen will. Es ist der Brief, lieber Saint-Preux, den Sie hier beigeschlossen finden. Wie gut ich weiß, daß Die, welche ihn geschrieben, todt ist, ich habe Mühe zu glauben, daß sie nicht mehr sein soll.
Hierauf kam sie auf ihren Vater zu sprechen und zeigte sieh voll Unruhe. Wie! sagte sie; er weiß seine Tochter in Gefahr, und ich höre nichts von ihm! Sollte ihm ein Unglück zugestoßen sein? Liebte er mich nicht mehr? Wie? mein Vater? .... Dieser so zärtliehe Vater .... sich so um mich nicht zu kümmern .... mich sterben zu lassen, ohne ihn zu sehen! .... ohne seinen Segen zu empfangen! .... seinen letzten Kuß! .... O Gott! Wie bittere Vorwürfe wird er sich machen, wenn er mich nicht mehr antreffen wird! Diese Betrachtung war ihr schmerzlich. Ich stellte mir vor, daß sie leichter den Gedanken ertragen würde, daß ihr Vater krank, als daß er gleichgültig gegen sie sei. Ich beschloß also, ihr die Wahrheit zu sagen. Es fand sich in der That, daß die Unruhe, in welche sie deshalb gerieth, weniger peinlich für sie war, als ihre frühere Befürchtung. Der Gedanke aber, ihn nicht wiederzusehen, ergriff sie lebhaft. Ach ! sagte sie, was wird nach meinem Tode aus ihm werden! Woran wird er hängen? Seine ganze Familie zu überleben! .... Was wird das für ein Leben sein! Er wird allein sein, er wird nicht mehr leben. Dieser Augenblick
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