Julie oder Die neue Heloise
war keine Muskel in ihrem Gesicht, die nicht in Thätigkeit war. Der Arzt antwortet nichts, greift wieder nach dem Puls, untersucht die Augen, die Zunge, sinnt einen Augenblick und sagt: Madame, ich verstehe Sie wohl; es ist mir unmöglich, jetzt etwas Positives zu sagen; wenn sie aber morgen früh, um die gleiche Stunde sich noch ebenso befindet, so bürge ich für ihr Leben. Bei diesem Wort fährt Clara wie ein Blitz auf, wirft zwei Stühle und fast den Tisch um, fällt dem Arzt um den Hals, küßt ihn taufend Mal unter Schluchzen und heißen Thränen, und immer mit demselben Ungestüm, reißt sich einen werthvollen Ring vom Finger, steckt ihn ihm trotz seines Widerstrebens an den seinigen, und sagt ganz außer Athem: Ach Monsieur, wenn Sie sie uns wiedergeben, so werden Sie nicht sie allein retten!
Julie sah Alles. Der Anblick zerriß ihr das Herz. Sie sieht einen Augenblick ihre Freundin an, und sagt dann mit schmerzlichem und schmerzhaftem Tone: Ach, Grausame, wie machst du es mir leid, das Leben zu verlassen! Willst du machen, daß ich in Verzweiflung sterbe? Soll ich dich denn zum zweiten Male vorbereiten müssen? Diesewenigen Worte waren ein Donnerschlag: sie vernichteten sogleich die freudige Aufwallung, konnten aber die wiedererwachende Hoffnung nicht ganz ersticken.
In einem Augenblick lief die Antwort des Arztes durch das ganze Haus. Die guten Leute sahen schon im Geiste ihre Herrin genesen. Sie beschlossen einstimmig, dem Arzte, wenn sie wieder aufkäme, gemeinschaftlich ein Geschenk zu machen, wozu jeder drei Monate Lohn steuerte; das Geld wurde auf der Stelle in Fanchon's Hände niedergelegt, indem Denen, die nicht genug hatten, die Anderen vorstreckten. Diese Sache wurde mit solchem Eifer verhandelt, daß Julie aus ihrem Bette das Geräusch ihrer Stimmen hörte. Denken Sie sich, wie das auf das Herz einer Frau wirken mußte, die sich sterbend fühlt. Sie winkte mir und sagte mir in's Ohr: Man läßt mich den bittersüßen Kelch der Empfindsamkeit bis auf die Neige leeren.
Als es Zeit war, sich zurückzuziehen, ließ Frau von Orbe, die, wie in den vorigen Nächten, das Bett der Cousine theilte, ihre Kammerfrau rufen, um Fanchon diese Nacht abzulösen; Fanchon aber entrüstete sich über den Vorschlag, selbst noch mehr, als ohne die Rückkunft ihres Mannes geschehen sein würde. Frau von Orbe wollte aber auch nicht nachgeben, und so brachten beide Kammerfrauen die Nacht im Cabinette zu. Ich blieb in dem benachbarten Zimmer und die Hoffnung hatte alle so munter gemacht, daß ich weder mit Befehlen noch mit Drohungen einen einzigen Bedienten bewegen konnte, zu Bett zu gehen. So blieb das ganze Haus diese Nacht auf den Beinen, und in einer Ungeduld, daß gewiß wenige von seinen Bewohnern waren, die nicht viel von ihrem Leben darum gegeben hätten, daß es erst neun Uhr Morgens wäre.
Ich hörte während der Nacht mehrmals gehen und kommen, ohne mich dadurch beunruhigen zu lassen; aber am Morgen, als Alles still war, trifft ein dumpfes Geräusch mein Ohr, ich horche, ich glaube ächzen zu hören. Ich laufe, trete ein, öffne den Vorhang Saint-Preux! .... theurer Saint-Preux! .... ich sehe die beiden Freundinnen einander regungslos in den Armen liegend, die eine ohnmächtig, die andere verscheidend. Ich schreie, ich will ihren letzten Hauch zurückhalten oder auffangen, ich stürze hinzu. Sie war nicht mehr.
Anbeter Gottes, Julie war nicht mehr! .... Ich kann Ihnen nicht sagen, was während einiger Stunden vorging; ich weiß nicht, was ich selber that. Als ich von der ersten Erschütterung wieder zu mir kam, fragte ich nach Frau von Orbe. Ich hörte, daß man sie hatte in ihr Zimmer bringen und selbst einschließen müssen; denn sie war jeden Augenblick in Juliens Zimmer gekommen, hatte sich auf den Leichnam geworfen, ihn mit ihrem Körper zu erwärmen, zu beleben gesucht, ihn mit einer Art Wuth gedrückt, an sich gepreßt, laut schreiend die Todte mit tausend Liebesnamen gerufen und ihre Verzweiflung mit allen diesen vergeblichen Anstrengungen genährt.
Als ich bei ihr eintrat, fand ich sie ganz von Sinnen, sie sah nicht, hörte nicht, kannte Niemanden, wälzte sich im Zimmer, die Hände ringend und in die Füße der Stühle beißend, dann lang anhaltendes Geschrei ausstoßend, daß es Einem durch Mark und Bein ging, Ihre Kammerfrau, am Fuße ihres Bettes, bestürzt, erschrocken, regungslos, wagte nicht zu athmen, suchte sich vor ihr zu verstecken und zitterte am ganzen Leibe. In der That hatten die
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