Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
Erwählten beschäftigt sein würden; die Anschauung dieser erhabenen Gegenstände würde jede andere Erinnerung auslöschen, man würde sich nicht wiedersehen, sich nicht wiedererkennen, auch im Himmel nicht, denn in dem ewigen Entzücken dort würde man an nichts Irdisches mehr denken.
    Das kann wohl sein, entgegnete Julie; von der Niedrigkeit unserer Gedanken bis zu dem Wesen Gottes ist ein solcher Abstand, daß wir nicht im voraus beurtheilen können, welche Wirkung es auf uns machen wird, wenn wir im Stande sein werden, es anzuschauen. Indessen, da ich vor der Hand nur nach meinen Vorstellungen urtheilen kann, so gestehe ich, so theure Beziehungen in meiner Seele zu tragen, daß ich mir nur schwer denken kann, daß ich je ohne sie sein könnte. Ich habe mir sogar eine Art Beweisgrund geschaffen, der meiner Hoffnung schmeichelt. Ich sage mir, daß ein Theil meiner Seligkeit in dem Zeugnisse eines guten Gewissens bestehen wird. Also werde ich mich dessen erinnern, was ich auf Erden gethan; ich werde mich also auch der Personen erinnern, die mir theuer gewesen sind: sie werden es mir also auch ferner noch sein: sie nicht mehr zu sehen
[Es ist leicht einzusehen, daß sie mit dem Worte,,sehen" einen rein geistigen Akt bezeichnen will, ähnlich dem, in welchem Gott uns sieht und wir Gott sehen werden. Sinnlich vorstellen kann man sich eine unmittelbare Mittheilung der Geister nicht! aber die Vernunft begreift sie sehr wohl und besser, wie mir scheint, als die Miltheilung der Bewegung in der Körperwelt.]
, würde eine Strafe sein, und eine solche läßt ja der selige Zustand nicht zu. Uebrigens, setzte sie hinzu, den Geistlichen heiter anblickend, wenn ich mich täusche, so werden ja ein paar Tage des Irrthums bald vorüber sein: in Kurzem werde ich darüber mehr wissen, als Sie. Inzwischen weiß ich so viel ganz gewiß, daß ich, solange ich eine Erinnerung von meinem Aufenthalt auf Erden habe, Die lieben werde, die ich dort geliebt habe, und mein Pastor wird unter ihnen nicht die letzte Stelle einnehmen.
    So gingen die Unterredungen dieses Tages hin, wobei Zuversicht, Hoffnung, Seelenruhe sich herrlicher als je in Julie offenbarten, und ihr, der Meinung des Geistlichen nach, im voraus den Frieden der Seligen gaben, deren Zahl sie bald vermehren sollte. Nie war sie zärtlicher, wahrer, liebreicher, liebenswürdiger, mit einem Worte, mehr sie selbst. Beständig Klarheit, beständig Gefühl, beständig die Festigkeit des Weisen und die Sanftmuth des Christen. Nichts Anspruchvolles, nichts Gemachtes, nichts Lehrhaftes: in Allem der naive Ausdruck dessen, was sie fühlte, in Allem die Einfalt ihres Herzens. Wenn sie manchmal die Klagen zurückhielt, die ihr das Leiden auspressen wollte, so geschah es nicht, um eine stoische Unerschrockenheit zum Besten zu geben, sondern aus Furcht, Denen, die sie umgaben, das Herz zu durchbohren; und wenn die Todesangst einen Augenblick der Natur zu ihrem Rechte verhalf, so verbarg sie ihre Zaghaftigkeit nicht, und ließ sich trösten; sobald sie sich wieder gefaßt hatte, tröstete sie dann die Anderen? man sah, man fühlte, daß es ein Gegendienst war; ihre liebreiche Miene sagte es aller Welt. Ihre Heiterkeit war nicht erzwungen, ihr Scherzen sogar war rührend; man hatte das Lächeln auf den Lippen und die Augen voll Thränen. Denken Sie den Schauder hinweg, der es Einem nicht erlaubt, im Angesichte des Verlustes einer Sache froh zu werden, und sie gefiel noch mehr, war noch liebenswürdiger als selbst in ihren gesunden Tagen, und der letzte Tag ihres Lebens war auch der reizendste.
    Gegen Abend hatte sie wieder einen Anfall, der, obgleich geringer, als am Morgen, ihr nicht erlaubte, ihre Kinder lange bei sich zu haben. Jedoch bemerkte sie noch, daß Henriette schlimm aussähe. Man sagte ihr, sie weine viel und äße nicht. Das wird man ihr nicht abgewöhnen können, sagte sie, auf Clara blickend, die Krankheit liegt im Blute.
    Als sie sich wieder erholt hatte, verlangte sie, daß in ihrem Zimmer zu Abend gegessen würde. Der Arzt war zugegen wie am Morgen. Fanchon, die sich sonst immer erst auffordern ließ, wenn sie mit an unseren Tisch kommen sollte, fand sich dieses Mal ungerufen ein. Julie bemerkte es und lächelte. Ja, mein Kind, sagte sie zu ihr, iß noch diesen Abend bei mir; du wirst deinen Mann länger haben, als deine Herrin. Denn, sagte sie zu mir, ich habe nicht nöthig, Ihnen Claude Anet zu empfehlen. Nein, entgegnete ich: Alles, was Sie mit Ihrem Wohlwollen beehrt

Weitere Kostenlose Bücher