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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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gut ich irgend konnte, in den oratorischen und pathetischen Ausdruck hineingedacht hatte, d. h. in die Kunst, zu dem Ohre und zu dem Herzen in einer Sprache ohne articulirtes Wort zu reden, machte ich mich daran, diese bezaubernde Musik zu hören, und ich fühlte bald an der Aufregung, welche sie mir verursachte, daß diese Kunst eine weit gewaltigereMacht habe, als ich mir je gedacht. Ein unbeschreibliches Lustgefühl nahm mich allmählig ein. Nicht mehr eine leere Reihenfolge von Klängen vernahm ich wie bei unseren Recitativen. Bei jeder Phrase trat ein Bild in meine Vorstellung oder eine Empfindung in mein Herz; das Vergnügen blieb nicht beim Ohre stehen, es drang in die Seele; der Vortrag floß anstrengungslos, mit reizender Leichtigkeit dahin; alle Mitwirkenden schienen von Einem Geiste beseelt; der Sänger, der seine Stimme beherrschte, zog ungezwungen Alles, was Melodie und Worte erforderten, heraus; und es gewährte mir eine wahrhafte Erquickung, nicht die Schwere dieser Cadenzen, nicht diese peinliche Anstrengung der Stimmen, nicht den Zwang zu fühlen, welche bei uns der ewige Streit zwischen Melodie und Metrum dem Sänger auferlegt, wobei, weil Beides nie zusammen geht, der Zuhörer nicht weniger abgemattet wird als der Ausführende.
    Als aber nach einer Reihe von gefälligen Arien zu jenen großen handlungreichen Stücken übergegangen wurde, welche das Gewirr stürmender Leidenschaften schildern und in der Seele erwecken, da verlor ich mit jedem Augenblick mehr den Gedanken an Musik, Gesang, Nachahmung; ich glaubte die Stimme des Schmerzes, der Wuth, der Verzweiflung zu hören; ich glaubte jammernde Mütter, verrathene Liebende, tobende Tyrannen zu sehen, und in der Aufregung, in welche ich mich widerstandslos versetzt fand, hatte ich Mühe, am Orte zu bleiben. Da erkannte ich, warum die nämliche Musik, welche mich früher gelangweilt hatte, mich jetzt entzündete, rnich mir selbst entrückte; ich hatte angefangen, sie zu begreifen, und sobald sie auf mich wirken konnte, wirkte sie mit aller ihrer Macht. Nein, Julie, das sind Eindrücke, die man nicht halb empfangen kann; sie sind überwältigend oder gar nicht vorhanden, niemals schwach oder mittelmäßig; man muß entweder unempfindlich bleiben oder sich über alles Maß aufregen lassen; entweder ist es der Schall einer Sprache, die man nicht versteht, oder ein Ungestüm des Gefühls, von welchem man fortgerissen wird, und dem die Seele nicht widerstehen kann.
    Ich hatte nur Ein Bedauern, aber das verließ mich nicht; nämlich, daß ein Anderer als du Töne gestaltete, die mich so angriffen, und daß ich aus dem Munde eines elenden Castrato die zärtlichsten Ausdrücke der Liebe hervorgehen sah. O meine Julie, ist es nicht an uns, dem Gefühle Alles, was sein ist, wieder zu erobern? Wer kann besserals wir sagen und fühlen, was eine schmelzende Seele sagen und fühlen muß? Wer kann mit rührenderem Tone das
cor mio, l'idolo amato
aussprechen? Ach! welchen Ausdruck wird das Herz der Kunst leihen, wenn wir je mit einander eines dieser entzückenden Duos singen, die so köstliche Thränen hervorlocken! Ich beschwöre dich, nur erst einmal eine Probe dieser Musik, entweder bei dir oder bei der Unzertrennlichen anzuhören, Milord wird, sobald du nur willst, alle seine Leute hinbringen, und ich bin gewiß, daß bei einem so empfänglichen Organ, wie das deinige ist, und bei größerer Bekanntschaft mit der italienischen Declamation, als ich hatte, ein einziger Abend hinreichen wird, dich auf den Punkt zu bringen, auf welchem ich selbst bin, und zu bewirken, daß du meinen Enthusiasmus theilest. Ich mache dir auch noch den Vorschlag und bitte dich, die Anwesenheit des Virtuosen zu benutzen, um Unterricht bei ihm zu nehmen, wie ich seit diesem Morgen thue. Seine Unterrichtsmethode ist einfach, nett und besteht mehr in Uebungen als in Erläuterungen; er sagt nicht, wie man es machen müsse, er macht es vor; und in dieser Sache wie in vielen andern ist das Beispiel mehr werth als die Regel. Ich sehe schon, daß es sich nur darum handelt, sich dem Rhythmus strenge zu unterwerfen, ihn richtig zu fühlen, mit Sorgfalt Athem zu nehmen und abzusetzen, die Töne gleichmäßig zu tragen und nicht zu drücken, um der Stimme das Schreiende und das ganze französische Pützelwerk zu benehmen, um sie rein, ausdrucksvoll und biegsam zu machen: die deinige, leicht und sanft wie sie von Natur ist, wird sich bald der neuen Manier bequemen; du wirst bald mit deinem

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