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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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gesagt und wiederhole es mit allem Nachdrucke, entferne deinen Freund, oder du bist verloren.
     
Dreiundsechzigster Brief.
Julie an Clara.
    Alles, was du vorausgesagt hattest, meine Liebe, ist geschehen. Gestern, eine Stunde nach unserer Rückkehr trat mein Vater in das Zimmer meiner Mutter, mit funkelnden Augen, glühendem Gesicht, mit Einem Worte, in einem Zustande, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Ich dachte mir sogleich, daß er Zank gehabt hätte oder anfangen wollte, und mein unruhiges Gewissen machte mich im Voraus zittern.
    Er fing damit an, daß er lebhaft aber nur im Allgemeinen gegen die Mütter loszog, welche ohne alle Vorsicht junge Leute ohne Stand und Namen ins Haus ziehen, deren Umgang nur Schande und Unehre über die Mädchen bringt, welche ihnen Gehör geben. Darauf, da er sah, daß dies nicht hinreichte, um einer eingeschüchterten Frau eine Antwort abzugewinnen, führte er ohne weitere Schonung als Beispiel das an, was in unserem eigenen Hause vorgefallen wäre, seit darin ein sogenannter Schöngeist, ein Schwadronör eingeführt worden, der mehr dazu geeignet wäre, ein ordentliches Mädchen zu verführen, als ihr guten Unterricht zu geben. Meine Mutter, die wohl sah, daß sie mit ihrem Schweigen nichts gewönne, griff nun das Wort Verführen auf und fragte ihn, was er in dem Betragen oder dem Rufe des braven jungen Mannes, von dem er spräche, für Ursache zu dergleichen Argwohn fände. Ich habe nicht geglaubt, setzte sie hinzu, daß Bildung und Geist ein Recht auf Ausschließung aus der Gesellschaft gäben. Wem soll man denn Ihr Haus öffnen, wenn nicht Talente und gute Sitten Zulaß finden sollen? Sortablen Leuten, Madame! rief er zornig, die die Ehre eines Mädchens repariren können, wenn sie sie verletzt haben. Nein! sagte sie, vielmehr braven Leuten, welche sie gar nicht verletzen. Merken Sie sich, sagte er, daß die Ehre eines Hauses beleidigt ist, wenn sich Jemand erfrecht die Verbindung mit demselben nachzusuchen, der keinen Anspruch darauf hat, sie zu erhalten. Ich sehe darin keine Beleidigung, sagte meine Mutter, sondern nur einen Beweis von Achtung. Uebrigens wüßte ich doch nicht, daß Der, gegen den Sie sich ereifern, etwas der Art in Betracht Ihrer gethan härte. Er hat es gethan, Madame, und wird Schlimmeres thunals das, wenn ich nicht Ordnung halte; aber ich werde aufpassen, zweifeln Sie nicht daran, da Sie diese Pflicht so schlecht erfüllen.
    Es begann hierauf ein gefährlicher Wortwechsel, aus dem ich sah, daß die Stadtgerüchte, deren du erwähnst, meinen Eltern unbekannt waren, wobei aber deine unwürdige Cousine hundert Fuß unter der Erde hätte sein mögen. Denke dir die beste und betrogenste der Mütter, die ihrer Tochter eine Lobrede hält, ach, und sie um alle die Tugenden, die sie verloren hat, lobt, in den ehrendsten, nein, um es recht zu sagen, in den demüthigendsten Ausdrücken: stelle dir einen erzürnten Vater vor, dem alle Scheltwörter nicht genug sind, und der bei aller seiner Heftigkeit dennoch kein einziges sich entfahren läßt, das den mindesten Zweifel an der Sittsamkeit Derer verriethe, die ihre Gewissensbisse vor seinen Augen zerreißen und die Scham zermalmt. Ha, unglaubliche Marter eines herabgewürdigten Gewissens, sich Vergehen vorzuwerfen, die Zorn und Unwille nicht einmal argwöhnen mag! Welche erdrückende, unerträgliche Last dieses Lob, diese Achtung, die das Herz im Geheimen ablehnt! Ich fühlte mich so beängstigt, daß ich, um die grausame Mutter los zu werden, im Begriff war, Alles zu gestehen, wenn mir nur mein Vater Zeit dazu gelassen hätte; aber in seiner unaufhaltsamen Heftigkeit sagte er hundert Mal dasselbe und sprang jeden Augenblick auf etwas Anderes über. Er bemerkte meine gedrückte, hinfällige, gedemüthigte Haltung, die meine Gewissensbisse verrieth. Wenn er aber nicht auf meinen Fehltritt daraus schloß, so schloß er doch daraus auf meine Liebe, und damit ich mich ihrer desto mehr schämen möchte, überhäufte er den Gegenstand derselben mit so abscheulichen und gehässigen Schimpfwörtern, daß ich aller Aufregung ungeachtet nicht an mich halten konnte, ohne ihn zu unterbrechen.
    Ich weiß nicht, meine Liebe, woher ich so viel Kühnheit nahm und was für eine augenblickliche Verirrung mich so der Pflicht und Bescheidenheit vergessen machte; aber wenn ich einen Augenblick mein ehrerbietiges Schweigen zu brechen wagte, so wurde ich dafür, wie du sehen wirst, hart genug bestraft. Um Himmels willen, sagte ich zu ihm,

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