Julie oder Die neue Heloise
beruhigen Sie sich doch; nie könnte ein Mann, der so vielen Schimpf verdient, gefährlich für mich sein. Mein Vater, der in diesen Worten einen Vorwurf gegen sich zu finden glaubte und dessen Wuth nur einen Vorwand suchte, warf sich im Augenblicke auf deine arme Freundin. Zum ersten Male in meinem Leben erhielt ich eine Ohrfeige, die nicht die einzige blieb, und indem er sich diesem Ausbruch mit derselben Heftigkeit hingab, mit welcher er gerungen hatte, ihm Luft zu machen, mißhandelte er mich ohne Schonung, obgleich meine Mutter sich zwischen uns geworfen, mich mit ihrem Leibe bedeckt und einige der Schläge aufgefangen hatte, die auf mich geführt waren. Indem ich zurücktrat, um ihnen auszuweichen, trat ich fehl, fiel und schlug mit dem Gesichte gegen den Fuß eines Tisches, daß ich blutete.
Hier endigte der Triumpf des Zornes und begann der der Natur. Mein Fall, mein Blut, meine Thränen, meiner Mutter Thränen erschütterten ihn; er hob mich mit besorgter Miene und mit Beeiferung vom Boden auf, und, nachdem er mich auf einen Stuhl gesetzt hatte, suchten sie Beide sorgfältig nach, ob ich keinen Schaden genommen. Ich hatte nur eine kleine Beule an der Stirne und blutete nur aus der Nase.
Indessen bemerkte ich an der veränderten Stimme und Miene meines Vaters, daß er unzufrieden mit dem war was er gethan hatte. Er lenkte nicht sogleich mit Liebkosungen gegen mich ein; die väterliche Würde litt keinen so plötzlichen Uebergang; wohl aber mit zärtlichen Entschuldigungen gegen meine Mutter, und ich sah recht gut an den Blicken, die er verstohlen auf mich warf, daß die Hälfte von Allem indirect an mich gerichtet war. Nein, meine Liebe, kein Beschämtsein hat so etwas Rührendes wie das eines zärtlichen Vaters, der sich übereilt zu haben glaubt. Das Vaterherz fühlt, daß es sein Beruf ist, zu verzeihen und nicht Verzeihung nöthig zu haben.
Es war die Zeit zum Abendessen: man verschob es, um mir Zeit zu lassen, mich zu erholen, und da mein Vater nicht wollte, daß die Bedienten meinen Zustand sehen sollten, holte er selbst ein Glas Wasser herbei, während meine Mutter mir das Gesicht benetzte. Ach, die arme Mama, die schon so schwach und kränklich war, solche Scene fehlte ihr auch noch und sie hätte nicht weniger Beistand nöthig gehabt als ich.
Bei Tische sprach er nicht mit mir; aber nur aus Scham, nicht aus Groll, er that als ob jede Schüssel besonders gut schmeckte, um der Mutter zu sagen, sie sollte mir doch davon aufthun; und, was mich am meisten rührte, ich bemerkte, wie er jede Gelegenheit ergriff, mich seine Tochter zu nennen und nicht Julie, wie gewöhnlich.
Nach den Essen war es so kalt, daß meine Mutter Feuer in ihrem Zimmer machen ließ. Sie setzte sich an die eine Seite des Kamins, und mein Vater setzte sich an die andere; ich wollte nach einem Stuhle gehen, um mich zwischen sie zu setzen, als er mich beim Kleide festhielt, und, ohne etwas zu sagen, mich auf seine Knie zog. Alles das geschah so schnell und mit einer Art unwillkürlicher Bewegung, daß wie eine Art Reue nachher folgte. Indessen ich saß auf seinem Knie, er konnte es nicht wieder rückgängig machen, und was hinsichts der Fassung das übelste war, er mußte mich in dieser unbequemen Stellung mit seinen Armen halten. Es machte sich das Alles schweigend; aber ich fühlte, wie er von Zeit zu Zeit seine Arme an meine Seiten drückte mit einem nur halb erstickten Seufzer. Ich weiß nicht, was für eine üble Scham seine väterlichen Arme zurückhielt, sich diesem süßen Umfassen ganz hinzugeben; eine gewisse abgemessene Würde, die nicht ganz verloren gehen sollte, eine gewisse Scheu, die nicht wohl zu überwinden war, brachte zwischen Vater und tochter etwas von jener reizenden Verlegenheit, welche den Liebenden Verschämtheit und Liebe hervorbringt, während eine zärtliche Mutter, unendlich entzückt, im Stillen das ihr so süße Schauspiel verschlang. Ich sah, ich fühlte das Alles, und konnte die Rührung nicht mehr zurückhalten, die sich meiner bemächtigte. Ich stellte mich als ob ich glitte; ich schlang, um mich zu halten, einen Arm um den Hals meines Vaters; ich neigte mein Gesicht auf sein ehrwürdiges Antlitz, und in einem Augenblick war es mit meinen Küssen bedeckt und mit meinen Thränen benetzt; ich fühlte an denen, die aus seinen Augen rannen, daß auch ihm selbst eine große Last vom Herzen fiel; meine Mutter kam und theilte unsre Wonne. Süße Freude der Unschuld, du allein fehltest meinem Herzen, um
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