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Juliet, Naked

Juliet, Naked

Titel: Juliet, Naked Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Hornby
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verheirateten Freundinnen gelegentlich beschrieben. Irgendwo zwischen Krankenhaus und Taxi war sie Tuckers Ehefrau
     geworden.
    »Ich weiß nicht, warum sie dir Angst machen sollte«, sagte Annie. »Aber sie tut es.«
     
    Irgendetwas an der Fahrt nach Gooleness erinnerte Tucker unangenehm an »Der alte Kuriositätenladen«. Er glaubte zwar nicht,
     dass er sich durch die englische Landschaft schleppte, um zu sterben, obwohl englische Züge auch nicht viel schneller vorankamen
     als Little Nell und ihr Dad, die zu Fuß nach wo war’s noch gleich mussten. (Der Zug hatte bereits drei Mal angehalten, und
     ein Mann entschuldigte sich immer wieder in Durchsagen mit ausdrucksloser, keineswegs zerknirscht klingender Stimme.) Aber
     Tucker war definitiv nicht in Bestform, und er war unterwegs in Richtung Norden und ließ jede Menge Scheiße hinter sich. Er
     fühlte sich mehr denn je wie ein krankes junges Mädchen aus dem neunzehnten Jahrhundert, das stand fest. Vielleicht brütete
     er irgendwas aus – eine Seelenkrankheit oder eine dieser ernsten Virusinfektionen, die im Moment umgingen. Tucker sagte sich
     gerne, dass er einigermaßen ehrlich zu sich selbst war; es waren nur die anderen, die er belog. Und trotzdem traf es zu, dass
     er so ziemlich sein ganzes Leben lang jedem etwas über Gracie vorgelogen hatte. Und Grace hatte er auch so einiges vorgelogen.
     Das Gute war immerhin, dass diese Lügen kein Dauerzustand waren, dass es dazwischen lange Phasen gab, in denen er niemandem
     etwas vormachen musste. Das weniger Gute wiederum war, dass es nur daran lag, dass er Gracie die meiste Zeit gar nicht auf
     dem Schirm hatte. Er hatte sie seit ihrer Geburt zwei oder drei Mal gesehen (bei einer dieser Gelegenheiten hatte sie eine
     katastrophale Reiseunternommen, um ihn und Cat und Jackson in Pennsylvania zu besuchen, ein Besuch, an den sich Jackson mit unerklärlicher Vorliebe
     erinnerte) und dachte so selten wie möglich an sie, wenn auch öfter als ihm lieb gewesen wäre. Und jetzt saß er hier in einem
     Zug weit weg von zu Hause, und log schon wieder hinsichtlich Gracie.
    Die Lügen waren gar nicht mal überraschend. Er konnte nicht in der dritten Person existieren – »Tucker Crowe, der semi-legendäre
     Einsiedler und Schöpfer des großartigsten, romantischsten Trennungsalbums, das je aufgenommen wurde« – und sich gleichzeitig
     die Wahrheit über seine älteste Tochter eingestehen. Und da er in der ersten Person praktisch nicht mehr existierte, nicht
     mehr seit dieser Nacht in Minneapolis, war es notwendig, sie sich vom Hals zu halten. Er war in Therapie gegangen, nachdem
     er aufgehört hatte zu trinken, aber er hatte selbst seinen Therapeuten belogen – oder hatte zumindest alles verschwiegen,
     woraus der Therapeut Gracies Bedeutung hätte erkennen können, und der Therapeut hatte nie zwei und zwei zusammengezählt. (Niemand
     zählte je zwei und zwei zusammen. Cat nicht, Natalie nicht, Lizzie nicht …) Es war Tucker immer so vorgekommen, als sei über
     Grace zu reden gleichbedeutend damit, »Juliet« aufzugeben, und das brachte er einfach nicht über sich. An seinem fünfzigsten
     Geburtstag hatte er eine Bilanz seines Lebens gezogen, wie Menschen in dem Alter es nun mal taten, und Juliet war so ziemlich das Einzige, was ihm gelungen war. Ihm gefiel es nicht, aber anderen Leuten schon, und das genügte gerade
     so: Ein Mann durfte doch wohl ein oder zwei Kinder opfern, um seine künstlerische Reputation zu wahren, besonders, wenn an
     ihm sonst nicht viel dran war? Und es war ja nicht so, dass Gracie tatsächlich darunter gelittenhätte. Oh, sicher, für Väter und Männer im Allgemeinen war sie wahrscheinlich für alle Zeiten verdorben. Und irgendwer, wahrscheinlich
     ihre Mutter oder ihr Stiefvater, hatte einiges für ihre Therapiesitzungen hinblättern müssen, genau wie Cat seine bezahlt
     hatte. Aber sie war, soweit er sehen konnte, ein sehr hübsches, intelligentes Mädchen, und sie würde es überleben. Sie hatte
     ja auch schon einen Freund und einen Beruf, auch wenn er sich ums Verrecken nicht erinnern konnte, welchen. Es kam ihm nicht
     so vor, als würde sie einen zu hohen Preis für die Eitelkeit ihres Erzeugers zahlen. In Maury Povichs Show würden sie das
     anders sehen, falls Grace ihn je dazu zwang, sich seinen Unzulänglichkeiten zu stellen. Aber die Welt war komplizierter als
     das. Es gab nicht nur die Guten und die Bösen, großartige Väter und abscheuliche Väter. Gott sei

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