Juliet, Naked
sein.«
»Ich verstehe einfach nicht, warum sie ihn angestiftet hat, das zu sagen. Ich meine, es ist nicht gerade clever. Oder witzig.
Und dann habe ich sie gerade aus dem Schlafzimmer angerufen, ehe ich unter die Dusche ging, und sie bleibt bei ihrer Story.«
»Sieht er aus wie Tucker Crowe?«
»Nein. Kein bisschen.«
Ihre Augen wanderten zum Kaminsims und dem Foto, das er mitgebracht hatte, als er eingezogen war: Tucker auf der Bühne, vielleicht
im Bottom Line, irgendwann Ende der Siebziger. Duncan spürte einen weiteren kleinen Panikschub nahen, ähnlich wie die Schrecksekunde,
die er am Abend zuvor erlebt hatte, als er mit Gina über Juliet redete. Der Mann, den er heute Morgen am Strand gesehen hatte, war nicht der Mann, der vor ein paar Wochen in einer Kneipe
›Farmer John‹ gesungen hatte, so viel stand fest. Und der Mann, den er heute Nachmittag am Strand gesehen hatte, war ganz
bestimmt nicht der Mann von dem berühmten Neil-Ritchie-Foto, der wilde Typ, der sich auf die Kamera stürzte. Was Duncan beunruhigte
war, dass er sich zum ersten Mal fragte, ob der junge Mann auf dem Kaminsims wirklich der Irre mit den verfilzten Haarensein konnte, der versucht hatte, Ritchie anzugreifen. Eigentlich sahen sie sich überhaupt nicht ähnlich. Sie hatten verschiedene
Augen, verschiedene Ohren, eine völlig andere Gesichtsfarbe. Er hatte für keine Sekunde am unerschöpflichen Wissen der Crowologen
gezweifelt – bis jetzt. Er hatte Neil Ritchies Story als historisch verbürgt angesehen, als Fakt. Aber vielleicht – und die
Panikschübe kamen jetzt in immer kürzeren Intervallen – war Neil Ritchie ein Vollidiot. Duncan hatte ihn nie kennengelernt,
aber seine Verblödung, seine Unverschämtheit und seine Arroganz waren allgemein bekannt, und Duncan hatte vor einigen Jahren
eine E-Mail von ihm erhalten, die beleidigend und ein bisschen neben der Kappe gewesen war. Neil Ritchie war ein Mann, der
Gott weiß wie viele Meilen gereist war, um in die Privatsphäre eines längst in den Ruhestand gegangenen Singer-Songwriters
einzudringen, der nur seinen Frieden haben wollte. Normal konnte man so ein Verhalten nicht nennen. Und dennoch vertraute
Duncan diesem Knaben mehr, als Annie und dem sympathisch aussehenden Mann am Strand? Wenn man die beiden Farmer-John-Bilder
aus der Gleichung nahm und dem Sänger vom Bottom-Line-Bild eine Brille aufsetzte, seine Haare silbern färbte und ihm einen
anständigen Haarschnitt verpasste …
»O Gott«, sagte Duncan.
»Was?«
»Ich kann keinen einzigen Grund nennen, warum der Mann sich als Tucker Crowe vorstellen sollte, es sei denn, er war es wirklich.«
»Wirklich?«
»Annie ist eigentlich kein grausamer Mensch. Und der Mann am Strand sah schon ein bisschen so aus wie der auf dem Foto. Nur
älter.«
»Und hat sie dir erklärt, woher sie ihn kennt?«
»Sie sagt, er hätte ihr geschrieben. Aus heiterem Himmel. Nachdem sie ihre Besprechung von Naked auf die Website gestellt hat.«
»Wenn das stimmt«, sagte Gina, »willst du dich ja bestimmt am liebsten aufhängen.«
Unglücklicherweise war Duncan physisch gar nicht in der Lage, zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde durch die Straßen von
Gooleness zu joggen, also musste er sich mit einem flotten Gang und gelegentlichen Pausen begnügen. Er brauchte sowieso Zeit,
um nachzudenken; er hatte über eine Menge nachzudenken. Duncan war nie der Typ gewesen, der etwas bereute, jedenfalls bis
vor Kurzem nicht. Doch in den letzten paar Wochen hatte er sich dabei ertappt, dass er wünschte, einiges anders gemacht zu
haben. Er war impulsiv gewesen, übereifrig und hatte nicht immer die beste Urteilskraft bewiesen. Er hatte vieles falsch eingeschätzt,
und er hasste sich selbst dafür. Und nirgendwo hatte er so falsch gelegen wie bei Juliet, Naked . Was hatte er sich dabei gedacht? Warum war er so darauf angesprungen? Wie um alles in der Welt konnte er zu dem Schluss
gekommen sein, dass es der Studioaufnahme in irgendeiner Hinsicht überlegen war? Nachdem er sie noch etwa fünfmal gehört hatte,
begannen die Akustikversionen der Songs ihren Reiz zu verlieren; nach weiteren zehn Malen konnte er das Album nicht mehr hören.
Es war nicht nur ein schwaches, unterernährtes, schmächtiges Ding, es kratzte sogar die Grandiosität von Juliet an: Wer wollte schon die rostigen Eingeweide eines Kunstwerks sehen? Es war von akademischem Interesse, und er hatte nun
mal ein akademisches
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