Juliet, Naked
Annie, Duncan, Duncan, Annie, Duncan,
wie er vor einem Urinal steht und so tut, als würde er pinkeln … Niemand sollte Kinder bekommen, nur damit dann das Fotoarchiv
auf dem Computer abwechslungsreicher wird. Andererseits bedeutete kinderlos zu bleiben, dass man bei negativerGrundstimmung zu dem Schluss gelangen konnte, die eigenen Fotos seien ganz schön langweilig. Niemand wurde erwachsen oder
größer, es wurden keine wichtigen Momente im Leben festgehalten, denn es gab keine. Duncan und Annie wurden bloß allmählich
älter und dicker. (Und das war verdammt nett gesagt von ihr. Sie selbst war kaum dicker geworden, fiel ihr auf.) Annie hatte
Singlefreundinnen, die keine Kinder hatten, aber deren Urlaubsfotos (in der Regel an exotischen Orten aufgenommen) waren niemals
langweilig – oder besser gesagt, sie zeigten nicht immerzu dieselben beiden Menschen, die dazu auch noch oft genug dieselben
T-Shirts und dieselben Sonnenbrillen trugen und neben demselben Pool des immergleichen Hotels an der Amalfiküste saßen.
Ihre kinderlosen Singlefreunde lernten auf ihren Reisen neue Leute kennen, die dann zu Freunden wurden. Duncan und Annie hatten
im Urlaub noch nie neue Freunde gefunden: Duncan hatte immer schreckliche Angst davor, mit irgendwem zu sprechen, denn es
könnten ja »Kletten« daraus werden. Einmal hatte Duncan, als er in diesem Hotel an der Amalfiküste neben dem Pool saß, jemanden
entdeckt, der das gleiche Buch las wie er, eine relativ unbekannte Biografie irgendeines Blues- oder Soulsängers. Manche Menschen
– vielleicht sogar die meisten – hätten darin einen glücklichen und unwahrscheinlichen Zufall gesehen, der ein freundliches
Lächeln oder ein Hallo wert war, vielleicht sogar einen gemeinsamen Drink, und schließlich hätte man E-Mail-Adressen ausgetauscht;
Duncan jedoch war sofort ins Zimmer marschiert, hatte das Buch weggelegt und sich ein anderes geholt, nur für den Fall, dass
der andere am Ende womöglich ein Gespräch mit ihm anfangen wollen würde. Vielleicht war ja nicht ihr gesamtes Leben Zeitverschwendung gewesen, sondern nur die fünfzehn Jahre, die sie mit Duncan verbracht hatte. Ein Teil ihres Lebens
herübergerettet! Der Teil, der 1993 zu Ende gegangen war! Die Fotos von ihrem USA-Urlaub trugen wenig dazu bei, ihre düstere
Stimmung zu vertreiben. Warum hatte sie es zugelassen, vor einem Geschäft für altmodische Damenunterwäsche in genau der gleichen
Pose geknipst zu werden, wie Tucker sie für das Albumcover von You And Me Both eingenommen hatte?
Duncans plötzlicher Widerwille gegen alles, was mit Tucker zusammenhing, machte alles noch sinnloser. Sie fragte ihn immer
wieder, was da vor Juliets Haus passiert war, aber er erklärte nur, sein Interesse sei schon seit längerer Zeit etwas abgeflaut,
und dieser Vormittag in Berkeley hätte ihm die Lächerlichkeit des Ganzen noch mal vor Augen geführt. Annie kaufte ihm das
nicht ab. Er hatte an jenem Morgen beim Frühstück nur Juliet im Kopf gehabt und war später, als sie ihn nachmittags im Hotel wiedersah, offenkundig über irgendetwas bestürzt gewesen;
die Anzeichen deuteten auf etwas von der Tragweite des Toiletten-Zwischenfalls in Minneapolis hin, etwas, das das Potenzial
dazu hatte, Anlass zu wildesten Spekulationen unter Crowologen im Internet zu geben.
Sie schloss ihr Fotoarchiv und ging runter in die Diele, um die Post aufzulesen, die seit ihrer Rückkehr am Morgen auf dem
Boden gelegen hatte. Duncan hatte bereits seine Amazon-Päckchen herausgefischt, die übrige an ihn adressierte Post interessierte
ihn nicht, also riss Annie, nachdem sie ihre Post durchgesehen hatte, auch seine auf, nur für den Fall, dass etwas darunter
war, das nicht direkt ins Altpapier sollte. Sie fand eine Einladung zu einem Symposium für Englischlehrer, zwei weitereEinladungen zum Erwerb einer neuen Kreditkarte, und in einem braunen Umschlag einen Brief sowie eine CD in einer Klarsichthülle.
Lieber Duncan, las sie
Wir haben uns schon eine ganze Weile nicht mehr gesprochen, aber es gab ja auch nicht viel Besprechenswertes, stimmt’s?
Nun veröffentlichen wir in einigen Monaten die beiliegende CD, und ich denke, Sie sollten einer der ersten sein,
der sie zu hören bekommt. Wer weiß, was daraus wird?
Ich nicht, und ich hege den Verdacht, nicht einmal Sie.
Tucker jedenfalls fand, dass die Zeit mittlerweile reif wäre.
Es sind akustische Solodemos aller Songs des Albums plus zwei
Weitere Kostenlose Bücher