Juliet, Naked
hassen begonnen hatte – ihre Verfressenheit, ihre Blasiertheit,
ihr Gesicht und ihre Stimme und ihren Morgenmantel. Wiederholte sich das nun? Juliet, Naked war genauso schuldlos und barg genauso viel Sprengkraft wie damals die Schokokekse.
Schließlich hörte sie auf, darüber nachzugrübeln, ob sie ihren Lebenspartner ebenfalls hasste, und hörte stattdessen zu. Und
was sie hörte, war genau das, was sie erwartet hätte, hätte sie etwas über Juliet, Naked in der Zeitung gelesen: Es war Juliet , aber ohne die ganzen guten Stellen. Das war wahrscheinlich nicht fair. Die tollen Melodien waren schon da, unbeschädigt,
und Crowe hatte offenkundig das meiste von den Texten geschrieben, auch wenn bei einigen Songs die Refrains fehlten. Aber
alles war so zögerlich, so schlicht – es war wie von diesen Bands, die man nicht kennt und die zur Mittagszeit bei einem Folkfestival
auf die Bühne dürfen. Es war noch gar keine richtige Musik dabei, keine Streicher, keine E-Gitarren, kein Rhythmus, nichts
von der Textur oder den Details, die stets Überraschungen bargen, selbst nach all diesen Jahren noch. Und sie konnte auch
keine Wut heraushören, keinen Schmerz. Wäre sie immer noch Lehrerin, hätte sie ihren Sechstklässlern beide Alben nacheinander
vorgespielt, damit sie begreifen konnten, dass es bei Kunst ums Als Ob ging. Natürlich hatte Tucker Crowe gelitten, als er Juliet aufnahm, aber er war nicht einfach in ein Studio marschiert und hatte angefangen zu heulen. Das hätte lächerlich und verrückt
geklungen. Er musste sich beruhigen, seine Wut bändigen und in eine Form zwingen, sodass sie genau in die engen Songstrukturen
passte. Anschließend musste er alles so herrichten, dass es authentischer klang. Juliet, Naked bewies, wie clever Tucker Crowe war, fand Annie, wie talentiert; aber nur wegen all der Dinge, die fehlten, nicht wegen der
Sachen, die man tatsächlich zu hören bekam.
Während ›She Called The Police‹, dem vorletzten Stück, hörte Annie die Tür. Sie hatte nicht wirklich die Kücheaufgeräumt, während sie die CD hörte, aber nun tat sie beschäftigt, und der Versuch des Multitasking an sich war schon eine
Art von Betrug: Ich hör mir ja bloß eine CD an! Was ist schon dabei!
»Wie war’s an der Uni?«, fragte sie, als er hereinkam. »Irgendwas vorgefallen, während du weg warst?«
Aber er hörte ihr schon nicht mehr zu. Er stand bewegungslos da, den Kopf den Lautsprechern zugewandt wie ein Vorstehhund.
»Was … warte mal. Sag’s nicht. Das Bootleg mit der Radio-Show aus Tokio? Solo und unplugged?« Und dann, mit wachsender Panik:
»Aber darauf hat er nicht ›Police‹ gespielt.«
»Nein, das ist …«
»Pst.«
Sie lauschten beide ein paar Takte. Annie sah sich seine Verwirrung an und fand Gefallen daran.
»Aber das ist …« Er verstummte erneut. »Das ist … Es ist nichts .«
Sie prustete los. Na klar! Wenn Duncan etwas noch nie gehört hatte, dann fiel ihm nichts anderes ein, als dessen Existenz
zu leugnen.
»Ich meine, es ist natürlich was, aber … Ich geb auf.«
» Juliet, Naked heißt es.«
»Heißt was?« Noch größere Panik. Seine Welt geriet in Schräglage, und er rutschte ab.
»Dieses Album.«
»Welches Album?«
»Das, was wir da gerade hören.«
»Dieses Album heißt Juliet, Naked ?«
»Ja.«
»Es gibt kein Album, das Juliet, Naked heißt.«
»Jetzt schon.«
Sie nahm das Begleitschreiben von Paul Hill und reichte es ihm. Er las es, las es noch mal, las es ein drittes Mal.
»Aber das ist ja an mich adressiert. Du hast meine Post aufgemacht.«
»Ich mache immer deine Post auf«, sagte sie. »Wenn ich sie nicht aufmache, macht sie niemand auf.«
»Die interessanten Briefe mache ich auf.«
»Den hier hast du nicht aufgemacht, weil er uninteressant aussah.«
»Ist er aber nicht.«
»Nein. Aber ich musste ihn aufmachen, um das festzustellen.«
»Du hattest kein Recht dazu«, sagte er. »Und außerdem … Die Frechheit, sie auch noch abzuspielen … Ich glaub’s einfach nicht.«
Annie bekam keine Chance, ihre vorbereiteten Pfeile auf ihn abzuschießen. Er marschierte zum CD-Player, nahm die CD heraus
und verließ die Küche.
Als Duncan zum ersten Mal zugesehen hatte, wie sein Computer von selbst die Titel einer CD einlas, hatte er seinen Augen nicht
getraut. Es war wie einem Zauberkünstler zuzusehen, der tatsächlich magische Kräfte besaß: Man brauchte gar nicht erst nach
der Erklärung, dem Trick zu
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