Juliet, Naked
bislang unveröffentlichte Tracks aus derselben Aufnahmesession.
Wir nennen die Platte Juliet, Naked.
Viel Spaß und sagen Sie mal Bescheid, was Sie davon halten!
Bestens
Paul Hill, Presseabteilung, PTO Music
Annie hielt ein neues Tucker-Album in Händen, und ihre Erregung rührte nicht daher, dass sie sich für Duncan mitfreute, sie
hätte sich auch nicht mit ihm gefreut, wenn er Premierminister geworden wäre. In den ganzen fünfzehn Jahren ihrer Beziehung
war etwas Derartiges noch nie geschehen, daher wusste sie nicht, wie sie nun damit umgehen sollte. Normalerweise hätte sie
Duncan auf dem Handy angerufen, doch sein Handy lag direkt vor ihr, zum Aufladen in die freie Steckdose neben der für den
Wasserkocher gesteckt; sie hätte die CD direkt auf seinen iPod laden können, doch den hatte er mit zum College genommen. (Beide
Geräte waren mit leeren Akkus aus dem Urlaub zurückgekommen. Um daseine hatte er sich sofort gekümmert, das andere hatte er bis kurz bevor er das Haus verlassen musste vergessen.) Wie sollte
sie jetzt ihre Ehrfurcht unter Beweis stellen?
Sie nahm die CD aus ihrer Plastikhülle und legte sie in den tragbaren CD-Player in der Küche. Aber statt auf »PLAY« zu drücken,
verharrte ihr Finger über der Taste. Durfte sie sich die wirklich anhören, bevor Duncan sie gehört hatte? Es kam ihr vor wie
einer dieser Momente – und in ihrer Beziehung gab es davon bei Gott wirklich reichlich –, die einem Außenstehenden komplett
harmlos erschienen, die jedoch extrem mit Bedeutung und Aggression aufgeladen waren. Annie sah schon vor sich, wie sie Ros
auf der Arbeit erzählte, dass Duncan total durchgedreht war, nur weil sie eine neue CD gehört hatte, während er nicht zu Hause
war, und wie Ros gebührend angewidert und empört reagierte. Aber das wäre nicht die ganze Geschichte. Sie würde sich selbst
in ein besseres Licht rücken und den Kontext weglassen. Da wäre es natürlich nur folgerichtig, Unverständnis und Empörung
zu empfinden, wenn man es nicht verstand, aber Annie kannte Duncan zu gut. Sie verstand. Sie wusste, dass es ein Akt nackter
Feindseligkeit war, diese CD abzuspielen, selbst wenn jemand, der durchs Fenster spähte, diese Nacktheit nicht sehen würde.
Sie steckte die CD wieder in ihre Schutzhülle und machte sich eine Tasse Kaffee. Duncan war nur weg, um sich den Stundenplan
fürs neue Semester zu holen, daher würde er in weniger als einer Stunde wieder zurück sein. Ach, das ist ja lächerlich, dachte
sie. Redete sie sich ein, denn Sich-einreden ist eine bessere, selbstbewusstere Art, mit sich selbst zu kommunizieren, als
nur zu denken, und auch eine effizientere Art, sich zu belügen. Warum sollte sie sich nicht eine Platte anhören, die ihr fast
mit Sicherheit gefallen würde, während sie in derKüche werkelte? Warum nicht so tun, als wäre Duncan ein normaler Mensch mit einem gesunden Verhältnis zu den Dingen, die ihm
Freude bereiteten? Sie legte die CD wieder in den Player, und diesmal drückte sie auf »PLAY«. Und schon legte sie sich die
Eröffnungszeilen für den Streit zurecht, der auf sie zukommen würde.
Sie war durch den bloßen Akt des Abspielens der CD, diesem erschütternden und verräterischen Tun, so aufgeregt, dass sie ganz
vergaß, auf die Musik zu achten – sie war zu sehr damit beschäftigt, sich ihre Antworten zurechtzulegen. »Es ist nur eine
CD, Duncan!« »Ich weiß nicht, ob du das je zur Kenntnis genommen hast, aber mir gefällt Juliet auch ziemlich gut.« (Dieses »ziemlich« – so harmlos und beiläufig, und dennoch so kränkend. Hoffte sie zumindest.) »Ich wusste
ja nicht, dass ich erst um Erlaubnis bitten muss!« »Ach, stell dich doch nicht an wie ein Kleinkind!« Woher rührte dieser
Groll? Es war ja nicht so, dass ihre Beziehung stärker auf der Kippe stand als vorher. Aber sie merkte jetzt, dass sich irgendwo
in ihr eine Menge Groll angestaut hatte, der nun nach Schlupflöchern, und seien sie noch so klein, suchte, um ins Freie zu
gelangen. Das letzte Mal, dass sie sich so gefühlt hatte, war in einer WG zu Unizeiten gewesen, als sie sich dabei ertappte,
wie sie unglaublich komplizierte und zeitraubende Fallen ersann, um eine Mitbewohnerin zu überführen, die sie in Verdacht
hatte, ihre Kekse zu stehlen. Sie hatte eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass es eigentlich nicht um die Kekse ging,
und dass sie, ohne es richtig zu merken, dieses andere Mädchen zu
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