Juliet, Naked
fürchtete, die negativen Reaktionen
waren vielleicht durch seine erste, überenthusiastische Besprechung provoziert worden. Er war gerade dabei, seine Bereitschaft,
sie in die Community aufzunehmen, zu revidieren, da stand sie in persona vor ihm.
»Und?«, fragte sie. Sie war nervös.
»Nun ja«, sagte er.
»Ich kam mir vor, als würde ich auf meine Prüfungsergebnisse warten.«
»Tut mir leid. Ich dachte nur gerade über das nach, was du geschrieben hast.«
»Und?«
»Du weißt, dass ich anderer Ansicht bin. Aber es ist wirklich nicht schlecht.«
»Oh. Besten Dank.«
»Ich stelle es gerne ein, wenn es das ist, was du möchtest.«
»Ich denke schon.«
»Du weißt, dass du deine E-Mail-Adresse angeben musst.«
»Muss ich?«
»Ja. Und es werden dich bestimmt ein paar Irre kontakten. Aber du kannst die löschen, wenn du nicht in eine Debatte verwickelt
werden willst.«
»Kann ich ein Pseudonym benutzen?«
»Warum? Es kennt dich doch keiner.«
»Du hast mich nie irgendeinem deiner Freunde gegenüber erwähnt?«
»Nein, ich glaub nicht.«
»Oh.«
Annie sah ziemlich sprachlos aus. Aber war das wirklich so seltsam? Keiner der anderen Crowologen wohnte in ihrer Stadt, und
er sprach mit ihnen immer nur über Tucker oder vielleicht mal über verwandte Künstler.
»Gab es schon mal einen Beitrag von einer Frau?«
Er tat so, als müsse er darüber nachdenken. Er hatte sich schon oft gefragt, warum sich immer nur Männer mittleren Alters
meldeten, aber es hatte ihn nie übermäßig gestört. Nun fühlte er sich in die Defensive gedrängt.
»Ja«, sagte er. »Ist aber schon länger her. Und die wollten immer nur darüber reden, wie, na, du weißt schon, attraktiv sie
ihn fanden.«
Offenbar konnte er sich Frauen nur als klischeehafte Dummchen denken, die unfähig waren, etwas zu einer ernsthaften Diskussion
beizutragen. Na schön, ihm waren nur Sekunden geblieben, sich etwas zu überlegen, aber selbst dann hätte ihm was Besseres
einfallen müssen. Wenn er je einen Roman schreiben sollte, würde er das im Auge behalten müssen.
»Finden Frauen ihn tatsächlich attraktiv?«
»Guter Gott, natürlich.«
Jetzt hörte er sich langsam etwas schräg an. Gut, nicht schräg, denn homoerotische Anziehungskraftwar natürlich nichts Schräges, keineswegs. Aber er verteidigte Tuckers Attraktivität entschieden vehementer, als er beabsichtigt
hatte.
»Wie auch immer. Mail mir den Text als angehängte Datei, und ich stelle ihn heute Abend ein.«
Und er musste gar nicht mal so lange mit sich ringen, ehe er tat, was er versprochen hatte.
Am nächsten Morgen auf der Arbeit ertappte Annie sich dabei, mehrmals pro Stunde auf die Website zu gehen. Zuerst kam es ihr
einleuchtend vor, dass sie auf ein Feedback wartete – sie hatte so etwas noch nie gemacht, da war es nur normal, dass sie
gespannt war, was passierte. Aber im Verlauf des Tages erkannte sie, dass sie gewinnen, dass sie Duncan vernichtend schlagen
wollte. Er hatte seine Meinung öffentlich gemacht, und sie war größtenteils mit Ablehnung, Sarkasmus, Skepsis und Neid aufgenommen
worden; sie wollte, dass die Leute zu ihr netter waren als zu ihm; sie sollten ihre Eloquenz und ihren wachen Verstand anerkennen,
und zu ihrer großen Freude taten sie das auch. Bis fünf Uhr nachmittags hatten sieben Leute Kommentare abgegeben, und sechs
davon waren wohlwollend – schlecht formuliert und enttäuschend knapp, aber immerhin freundlich. »Gut gemacht, Annie!« »Willkommen
in unserer kleinen Online-Community – gute Arbeit!« »Ich bin völlig deiner Meinung. Duncan liegt so weit daneben, dass er
schon vom Schirm verschwunden ist.« Der Einzige, der klarstellen wollte, dass ihm ihr Beitrag nicht gefallen hatte, war jemand,
der an nichts viel Gefallen zu finden schien. »Tucker Crowe ist SCHNEE VON GESTERN lasst es doch bleiben ihr Leute seid doch
lächerlich ständig über einen Sänger zu quatschen der seit zwanzig Jahren nichts mehr aufgenommen hat.Damals war er überbewertet und heute ist er es auch und ›Morrissey‹ ist so viel besser, dass es schon peinlich ist.«
Sie fragte sich, wozu jemand sich die Mühe machte, so was zu schreiben; aber andererseits war »wozu die Mühe« keine Frage,
die man sich in Hinsicht aufs Internet stellen durfte, sonst schmolz das Ganze zu einem süßen Nichts zusammen. Warum hatte
sie sich die Mühe gemacht? Warum tat das überhaupt jemand? Sie war insgesamt doch eher dafür, sich die
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