Juliet, Naked
das? Sie las noch einmal
seinen Schluss: »Ich habe nun fast ein Vierteljahrhundert mit Tucker Crowes bemerkenswerten Songs gelebt, und erst heute,
da ich aufs Meer blicke und ›You And Your Perfect Life‹ in der Form höre, wie Gott und Crowe es gewollt haben …«
Der Punkt war nicht, dass er ihr das Gefühl gab, inkompetent zu sein, oder sie veranlasste, sich und ihren Urteilen zu misstrauen.
Nein, im Gegenteil. Er hatte überhaupt keine Ahnung, und sie hatte bis jetzt immer die Augen davor verschlossen. Sie hatte
immer geglaubt, sein leidenschaftliches Interesse für Musik, Filme und Bücher sei ein Zeichen von Intelligenz, aber das musste
natürlich nicht zutreffen, wenn er jedes Mal total danebenlag. Warum brachte er angehenden Klempnern und zukünftigen Hotelportiers
bei, sich auf die richtige Weise amerikanische Filme anzusehen, wenn er doch so klug war? Warum schrieb er Tausende Zeilen
für obskure Websites, die sowieso nie jemand las? Und wieso war er so davon überzeugt, dass ein Sänger, dem kaum jemand große
Aufmerksamkeit gezollt hatte, ein Genie war, das Dylan und Keats den Rang ablief? Oh, oh, diese Wut verhieß nichts Gutes.
Das Gehirn ihres Partnersschrumpfte unter ihrem unbarmherzigen Blick auf Walnussgröße zusammen. Und er hatte sie als verblödet bezeichnet? In einem hatte er allerdings Recht: Tucker Crowe war wichtig, und er brachte grausame Wahrheiten
über die Menschen ans Licht. Zumindest über Duncan.
Als Ros vorbeikam, um sich zu erkundigen, ob sie mit den Fotos vorangekommen waren, hatte Annie immer noch die Website auf
dem Monitor.
»Tucker Crowe«, sagte Ros. »Wow. Mein Freund an der Uni stand auf den«, erzählte sie. »Ich wusste gar nicht, dass es den noch
gibt.«
»Den gibt’s eigentlich auch nicht mehr. Du hattest an der Uni einen Freund?«
»Ja. Er war schwul, wie sich rausstellte. Versteh gar nicht, wieso wir uns getrennt haben. Aber ich kapier’s noch nicht. Tucker
Crowe hat eine eigene Website?«
»Jeder hat heute eine eigene Website.«
»Echt?«
»Ich glaub schon. Heutzutage gerät niemand mehr in Vergessenheit. Sieben Fans in Australien tun sich mit drei Kanadiern, neun
Briten und ein paar Dutzend Amerikanern zusammen und schon wird über einen, der seit zwanzig Jahren nichts mehr aufgenommen
hat, jeden Tag diskutiert. Dafür wurde das Internet erfunden. Dafür und für Pornografie. Willst du wissen, welche Stücke er
1985 in Portland, Oregon gespielt hat?«
»Nicht wirklich.«
»Dann ist diese Website nichts für dich.«
»Wie kommt’s, dass du so viel darüber weißt? Bist du eine von den neun Engländern?«
»Nein. Frauen juckt das nicht. Meinen, du weißt schon, Duncan aber schon.«
Als was sollte sie Duncan bezeichnen? Nicht mit ihm verheiratet zu sein wurde allmählich genauso nervig, wie sie sich eine
Ehe mit ihm immer vorgestellt hatte. Sie weigerte sich, ihn als ihren Boyfriend zu bezeichnen. Großer Gott, er war Mitte vierzig. Freund? Partner? Lebensabschnittsbegleiter? Keine dieser Bezeichnungen
schien ihr Verhältnis angemessen zu beschreiben, eine Unangemessenheit, die ihr besonders krass aufstieß, wenn es um das Wort
»Freund« ging. Und sie hasste es, wenn Leute einfach loslegten und von einem Peter oder einer Jane erzählten, ohne dass man
eine Ahnung hatte, wer Peter oder Jane waren. Vielleicht sollte sie ihn einfach nie wieder erwähnen.
»Und er hat gerade eine Million Wörter Geschwafel produziert und sie ins Netz gestellt, damit die ganze Welt sie liest. Sofern
die Welt daran interessiert sein sollte.«
Sie forderte Ros auf, Duncans Text zu lesen. Ros las die ersten paar Zeilen.
»Ooch, süß.«
Annie schnitt ein Gesicht.
»Sag nichts gegen Leute mit einer Leidenschaft«, meinte Ros. »Vor allem einer Leidenschaft für die schönen Künste. Das sind
immer die interessantesten.«
Anscheinend saßen alle diesem Mythos auf.
»Schön. Das nächste Mal, wenn du im West End bist, stell dich doch bei irgendeinem Musical an den Bühnenausgang und freunde
dich mit einer dieser Jammergestalten an, die da auf Autogramme warten. Mal sehen, wie interessant du die findest.«
»Klingt, als sollte ich mir diese CD besorgen.«
»Spar dir die Mühe. Das regt mich ja so auf. Ich hab sie mir angehört, und er liegt voll daneben. Und aus irgendeinem Grund
will ich das unbedingt loswerden.«
»Du solltest deine eigene Kritik schreiben und neben seine stellen.«
»Oh, ich versteh ja nicht so
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