Juliet, Naked
wer auf einigen seiner Songs anonym Backing Vocals beigesteuert hatte. Und praktisch jedes
Wort der biografischen Belanglosigkeiten über ihn, die wie Weltraumschrott durchs Internet trieben, war falsch, soweit er
es mitbekommen hatte. Zum Beispiel wusste keiner dieser Spinner, dass er fünf Kinder von vier verschiedenen Frauen hatte;
aber alle wussten, dass er ein geheimes Kind mit Julie Beatty hatte, so ziemlich die einzige Frau, die anzubumsen er vermieden
hatte. Und wann hörten die endlich auf, darüber zu schwafeln, was auf einem Klo in Minneapolis passiert war?
Er tat sein Bestes, seine Bedeutung in diesem Universum nicht zu hoch zu hängen. Die meisten Menschen hatten ihn vergessen;
eher selten, schätzte er, stieß mal jemand in irgendeiner Plattenkritik auf seinen Namen – einige der älteren Musikkritiker
benutzten ihn manchmal noch als Bezugspunkt – oder jemand sah in der alten Vinylsammlung von irgendwem eine seiner Platten
und dachte: »Ach ja, mein Zimmergenosse an der Uni hat auf den gestanden.« Aber das Internet hatte alles verändert: Es wurde
niemand mehr vergessen. Wenn er seinen Namen googelte, kam er auf Tausende von Treffern, und deswegen hatte er wieder angefangen,
seine Karriere als etwas weiterhin Stattfindendes zu sehen, nicht als Schnee von gestern. Wenn man auf der richtigen Website
nachsah, dann war er nicht Tucker Crowe, Exmusiker, Experson, sondern Tucker Crowe, das geheimnisvolle, untergetauchte Genie.
Anfangs hatte er sich geschmeichelt gefühlt, dass Menschen sich ganz der Online-Diskussion um seine Musik verschrieben hatten;
das hatte dazu beigetragen, etwas von dem wiederherzustellen, was sich durch alles, was ihm nach seinem Ausstieg passiert
war, ein bisschenabgenutzt hatte. Aber nach einer Weile machten ihn diese Leute einfach nur noch krank, besonders, wenn sie ihre verschrobene
Aufmerksamkeit Juliet zuwandten. Immer noch. Wenn er weiter Musik gemacht hätte, wäre er heutzutage höchstwahrscheinlich nur noch ein alter Witz
oder bestenfalls eine Kultfigur, der sich einen bescheidenen Lebensunterhalt durch Konzerte in kleinen Clubs verdienen konnte
oder der gelegentlich als Ehrengast und Opening-Act bei irgendwelchen Bands auftrat, die er offenbar inspiriert hatte, auch
wenn er nichts von seinem Einfluss heraushörte. Mit der Musik aufzuhören, war also eine kluge Karriereentscheidung gewesen,
vorausgesetzt, man ignorierte die Tatsache, dass das Fehlen einer Karriere die unvermeidliche Konsequenz war.
Tucker und Jackson waren spät dran und fanden Lizzie, die in der vergeblichen Hoffnung, Tucker könnte einen Wagen geschickt
haben, um sie abzuholen, eine Reihe von Chauffeuren ablief, die Namensschilder hochhielten. Er tippte ihr auf die Schulter,
und sie drehte sich erschrocken um.
»Hi.«
»Oh. Hi. Tucker?«
Er nickte und versuchte, ohne Worte rüberzubringen, dass ihm recht war, was immer sie vorhatte. Sie konnte ihm um den Hals
fallen und weinen, sie konnte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange geben, ihm die Hand schütteln oder ihn rundweg ignorieren
und schweigend zum Truck marschieren. Er wurde langsam Profi in der »elterlichen Wiedereinsetzung«, wie er es nannte. Vielleicht
sollte er Kurse geben. Es gab heute ja genug Menschen, die so etwas gebrauchen konnten.
Wenn Tucker das Denken in nationalen Stereotypennicht zuwider gewesen wäre, hätte er Lizzies Begrüßung als typisch englisch beschrieben. Sie lächelte höflich, küsste ihn
auf die Wange und schaffte es dennoch, ihm das Gefühl zu geben, er sei der Repräsentant von allen Gossenbewohnern, die es
wegen anderer Verpflichtungen ebenfalls nicht rechtzeitig zum Flughafen schafften.
»Und ich bin Jackson«, erklärte der Junge mit beeindruckender Feierlichkeit. »Ich bin dein Bruder. Ich freue mich außerordentlich,
deine Bekanntschaft zu machen.« Aus irgendeinem Grund schien Jackson bei Anlässen von derartigem Gewicht eine gestelzte Diktion
für angebracht zu halten.
»Halbbruder«, korrigierte Lizzie unnötigerweise.
»Korrekt«, sagte Jackson, und Lizzie lachte. Tucker war froh, dass er ihn mitgenommen hatte.
Während der ersten Hälfte der Heimfahrt lief das Gespräch wunderbar. Sie unterhielten sich über ihren Flug, die Filme, die
sie gesehen hatte, und ein Pärchen, das vom Steward wegen anstößigen Verhaltens getadelt worden war (»Rumgeknutsche« nannte
Lizzie es auf Jacksons hartnäckiges Nachfragen hin), er erkundigte sich
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