Juliet, Naked
geholfen, wenigstens ein bisschen das Gesicht zu wahren.
»Und warum nicht?«
»Weil ich, ganz egal, was Sie von mir halten, keine totale Schlampe bin.«
Sie war natürlich alles andere als eine Schlampe. Sie hatte fünfzehn Jahre lang mit nur einem Mann geschlafen, sehr sporadisch,
und das meistens ohne großen Enthusiasmus. Aber allein zu sagen: »Ich bin keine totale Schlampe«, baute irgendwie ihr sexuelles
Selbstvertrauen auf. Vierundzwanzig Stunden zuvor hätte sie sich nicht vorstellen können, so etwas zu sagen.
»Was stimmte denn nicht mit ihm?«
»Nichts. Er war nett. Seltsam, aber nett.«
»Wonach suchen Sie denn?«
»Ich weiß genau, wonach ich suche.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Tatsächlich. Nach jemandem in meinem Alter oder darüber. Jemanden, der Bücher liest. Vielleicht jemanden mit einer kreativen
Ader. Wenn er ein Kind oder Kinder hätte, würde es mich nicht stören. Jemanden mit ein bisschen Lebenserfahrung.«
»Ich weiß, wen Sie beschreiben.«
Annie bezweifelte das stark, aber für einen Moment fragte sie sich, ob Malcolm jemanden für sie aus dem Hut zaubern würde
– vielleicht einen frischgeschiedenen Sohn, der Gedichte schrieb und bei den Manchester Philharmonikern spielte.
»Wirklich?«
»Das Gegenteil.«
»Das Gegenteil wovon?«
»Von Duncan.«
Es war das zweite Mal in der jüngsten Vergangenheit, dass Malcolm eine Anmerkung gemacht hatte, die man, vermutlich irrigerweise,
als scharfsichtig bezeichnen konnte. Tucker war das genaue Gegenteil von Duncan. Duncan hatte keine Kinder, keine kreative
Ader und noch nichts erlebt, nicht das kleinste Bisschen. Oder hatte zumindest noch nie Steinchen an das Fenster einer berühmten
Schönheit geworfen, war nie Alkoholiker gewesen, noch nie durch Europa und die USA getourt und hatte kein gottgegebenes Talent
weggeworfen. (Selbst Tuckers Art, sein Leben nicht zu leben, konnte man als Leben bezeichnen, wenn man verknallt in ihn war.)
War es das? War sie in Tucker verliebt, weil er das Gegenteil von Duncan war? War Duncan in Tucker verliebt, weil er das Gegenteil
von Duncan war? Wenn dem so wäre, hätten Annie und Duncan es geschafft, gemeinsam eine Leerstelle zu erzeugen, eine komplizierte
Leerstelle mit allen möglichen kniffeligen Ecken, komischen Ausbuchtungen und unerwarteten Zacken wie das Teil eines Puzzles,
und Tucker hätte genau hineingepasst.
»Das ist Quatsch«, sagte sie.
»Oh«, meinte Malcolm. »Na gut. Es war ja nur eine Idee.«
Liebe Annie,
»Was macht man, wenn man glaubt, fünfzehn Jahre seines Lebens verschwendet zu haben?« Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich
weiß nicht, ob du es schon mitbekommen hast, aber ich bin so ziemlich der weltgrößte Experte auf diesem Gebiet. Ich meine,
ich habe natürlich weit mehr als fünfzehn Jahre vergeudet, aber ich hoffe, du ignorierst diese zusätzlichen Jahre und betrachtest
mich als verwandte Seele. Vielleicht sogar als Guru.
Zuallererst musst du die Zahl drücken. Mach dir eine Liste mit allen guten Büchern, die du gelesen hast, den Filmen, die du
gesehen, allen Gesprächen, die du geführt hast und so weiter, um all diesen Dingen einen zeitlichen Wert zuzumessen. Mit ein
bisschen kreativer Buchführung solltest du in der Lage sein, auf zehn zu kommen. Ich hab meine Zeit mittlerweile so weit runterbekommen,
obwohl ich hier und da ein bisschen geschwindelt habe – so hab ich zum Beispiel die komplette Lebenszeit meines Sohnes Jackson
eingerechnet, dabei war er einen Großteil der vergeudeten Jahre in der Schule oder schlief.
Ich würde ja gerne behaupten, dass man alles, was so bei zehn Jahren landet, steuerlich absetzen kann, aber so empfinde ich
es leider nicht. Was ich vergeudet habe, quält mich immer noch, aber das gestehe ich nur mir selbst zu später Stunde ein –
deshalb schlafe ich auch wohl nicht besonders gut.
Was soll ich dir sagen? Wenn die Zeit wirklich vertan ist – und ich müsste deine biografischen Unterlagen sehr sorgfältig
prüfen, um dir das bescheinigen zu können –, dann hab ich schlechte Nachrichten: Sie ist futsch. Du kannst vielleicht am anderen
Ende etwas dazugewinnen, indem du Drogen weglässt, aufhörst zu rauchen oder öfter Sport treibst, aber ich schätze mal, die
Jahre ab 80 sind doch nicht so toll, wie immer behauptet wird.
Wenn durch sonst nichts, so wird dir doch zumindest meine E-Mail-Adresse verraten haben, dass ich Dickens mag – ich lese gerade
seine Briefe. Es gibt
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