Juliet, Naked
brauchten. Sie hatten einen voll funktionsfähigen Dad mit einer
eigenen Autovermietung, und es war ihnen ein Rätsel, warum jeder darauf bestand, dass ihre Beziehung zu einem Mann, der weit
weg lebte, irgendwie für ihr Wohlbefinden entscheidend sei. Während Jackson seinem Vater schon ganz warm ums Herz werden ließ,
wenn er morgens im Halbschlaf den Fernseher anmachte. Man konnte Menschen, die man nicht kannte, nicht lieben, es sei denn,
man war Christus. Tucker kannte sich selbst gut genug, um zu akzeptieren, dass er nicht Christus war. Wen liebte er also,
von Jackson abgesehen? Er ging schnell die Checkliste durch. Nein, Jackson, und das war’s so ziemlich. Bei fünf Kindern und
all den Frauen hätte er nie auch nur für einen Moment gedacht, dass ausgerechnet die zu geringe Auswahl irgendwann ein Problem
sein würde. Komisch, wie es kommen konnte.
»Ich bin ziemlich müde«, sagte er. »Wie wär’s, wenn ihr alle mal zu Lizzie geht?«
»Will Lizzie überhaupt von uns besucht werden?«, fragte Carrie.
»Sicher«, sagte er. »Darum sind wir doch unteranderem hier. Um uns gegenseitig als Familie kennenzulernen.« Und wenn es in einem anderen Krankenhauszimmer stattfand, umso
besser.
Ein paar Stunden später kamen sie alle kichernd und offenbar zu einer festen Einheit zusammengeschweißt zurück. Sie hatten
auch noch Familienzuwachs mitgebracht, einen jungen Mann mit einem lächerlich buschigen Bart, der eine Gitarre dabei hatte.
»Kennst du Zak schon?«, fragte Natalie. »Er ist dein Irgendwas-um-drei-Ecken. Dein Schwiegersohn ohne Trauschein.«
»Riesenfan«, sagte Zak. »Ich mein, ganz, ganz riesiger.«
»Das ist nett«, sagte Tucker. »Vielen Dank.«
» Juliet hat mein Leben verändert.«
»Toll. Toll, falls sich in deinem Leben was verändern sollte, meine ich. War vielleicht ja gar nicht so.«
»Doch, war so.«
»Na dann, toll. Freut mich, dass ich von Nutzen sein konnte.«
»Zak möchte dir ein paar von seinen Songs vorspielen«, sagte Natalie. »Aber er war zu schüchtern, dich selbst zu fragen.«
Tod, wo ist dein Stachel, fragte sich Tucker. Ein schneller Herzinfarkt und aus, schon wäre ihm erspart geblieben, sich für
den Rest seines Lebens Songs von bärtigen Schwiegersöhnen-ohne-Trauschein anzuhören.
»Nur zu«, sagte Tucker. »Dein Publikum kann dir nicht weglaufen.«
»Wer ist deine?«, fragte Gina Duncan.
Sie hörten sich gerade wieder Naked an. Seit einer Woche lebten sie nun von Bootlegs der Juliet -Songs: Duncan hatte neun verschiedene Playlistsentsprechend der Stückfolge auf dem Album angelegt, jeweils von verschiedenen Abenden der 86er-Tour. Gina hatte allerdings
irgendwann eine Vorliebe für Studioalben bekundet, weil dann keine Betrunkenen ihre Lieblingsstücke mitgrölten.
»Wer ist meine was?«
»Deine … Wie nennt er sie? ›Princess Impossible‹?«
»Ich weiß nicht. Die meisten Frauen, mit denen ich eine längere Beziehung hatte, waren eigentlich ziemlich vernünftig.«
»Aber darum geht es ihm doch gar nicht, oder?«
Duncan starrte sie an. Niemand hatte je versucht, sich mit ihm über Tucker Crowes Texte zu streiten. Nicht, dass Gina sich
direkt mit ihm stritt. Aber sie schien kurz davor zu sein, eine Interpretation zu äußern, die seiner widersprach, und das
machte ihn ein wenig gereizt.
»Wovon singt er denn deiner Meinung nach, du Crowe-Koryphäe?«
»Sorry. Ich hatte nicht vor … Ich will mich ja nicht zur Expertin aufschwingen.«
»Gut«, sagte er und lachte. »Dazu braucht man auch ein paar Jahre.«
»Das glaube ich gern. Aber ist sie nicht Princess Impossible, weil sie unerreichbar ist? Und nicht, weil sie ein unmöglicher
Mensch ist?«
»Tja«, sagte er generös. »Das ist ja gerade das Wunderbare an großer Kunst, oder? Sie kann alles Mögliche bedeuten. Aber nach
allem, was man hört, war sie ausgesprochen schwierig.«
»Aber in diesem ersten Stück …«
»›And You Are‹?«
»Ja, das … Da ist doch diese Zeile …«
»›They told me that talking to you / Would bechewing barbed wire with a mouth ulcer / But you never once hurt me like that.‹«
»Wie passt das dazu, dass sie so unmöglich sein soll? Wenn sie ihm nie so wehgetan hat?«
»Ich schätze, sie ist erst später so unmöglich geworden.«
»Ich dachte, es wäre mehr so, na ja, dass sie für ihn unerreichbar ist. ›Your Royal Highness, way up there, and me on the
floor below‹. Heißt das nicht, er meint, sie ist eine Nummer zu
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