Juliregen
Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle.«
»Danke! So etwas hört man gerne.« Jetzt musste der Graf doch lachen. Während er Mary beim Aussteigen half, hob Jürgen Nathalia aus dem Sattel und übernahm den Zügel ihrer Stute.
Leutnant Bukow schüttelte höhnisch lächelnd den Kopf. »Sie machen sich gut als Stallbursche, Vetter Jürgen.«
»Ich bin nur höflich, Vetter Adolar!«
Von Bukow deutete eine verächtliche Handbewegung an, während sein Vetter Gademer weiterhin Abstand zu den neuen Gästen hielt. Für seinen Geschmack war Komtess Nathalia zu kapriziös und gewiss nicht die Frau, die er einmal heimführen wollte. Da er mit seinem landwirtschaftlichen Fachwissen seine beiden Vettern weit übertraf und sich bemühte, seinem Großonkel dies auch vor Augen zu führen, sah er sich bereits als neuer Gutsherr auf Nehlen und wollte selbstverständlich auch die letzte Bedingung erfüllen, die dieser laut Rodegard von Philippstein an das Erbe knüpfte, und deren Tochter heiraten.
Die neuen Gäste kamen ihm daher äußerst ungelegen, und er beschloss, sie zu missachten. »Oheim«, sagte er in dem Glauben, dass die altmodische Ausdrucksweise dem alten Herrn schmeicheln könnte, »erlaubt, dass ich wieder auf die Wiesen hinausreite und nachsehe, wie weit die Knechte mit dem Heu sind.«
»Ich dachte ja, du wolltest mit uns speisen. Aber wenn dir die Pflicht über alles geht, will ich dich nicht daran hindern, sie zu erledigen.« Grimbert von Nehlen war zunehmend verärgert über diesen Großneffen, der sein Wissen ständig herausstrich und nicht müde wurde, seine beiden Konkurrenten schlechtzureden. Daher wandte er Gademer den Rücken zu und trat neben Fridolin, der ebenfalls aus dem Sattel gestiegen war. »Willkommen, Trettin! Ich freue mich, Sie zu sehen. Wie sieht es aus? Können Sie die Festung erstürmen?«
»Noch nicht ganz, aber ich werde mir Mühe geben. Doch lassen Sie mich meinen Dank aussprechen, dass Sie mir und meinen Begleitern für diese Nacht Quartier bieten. Ich war ein wenig in Sorge, eine solch große Anzahl von Gästen könnte Ihnen unwillkommen sein.« Fridolin ergriff die ausgestreckte Hand des alten Herrn und vergewisserte sich, dass seine Begleiterinnen und Konrad die Fahrt gut überstanden hatten.
Lore stieg vom Wagen und reichte die Zügel einem Stallknecht. Drewes führte das Gespann weg, während Käthe und Tinke die beiden Mädchen auf dem Arm trugen und Fräulein Agathe die Jungen festhielt, damit diese ihr nicht entwischten.
Lore und Mary eilten ihr zu Hilfe und hoben ihre Söhne auf. »Gleich gibt es etwas Gutes zu essen«, versuchte Lore Wolfi zu beruhigen, der sich ihrem Zugriff widersetzte.
»Hab keinen Hunger«, antwortete der Junge mürrisch und äugte zur Remise hinüber, die ihm weitaus verlockender erschien als der düstere Raum, in dem Graf Nehlen seine Gäste zu empfangen pflegte.
Frau von Philippstein maß Lore mit einem verächtlichen Blick. »In dem Alter habe ich meine Kinder der Gouvernante überlassen. Dafür wird die schließlich bezahlt!«
»Ich finde, dass Kinder eine gewisse Bindung an die Eltern bekommen sollten. Sonst werden sie zu dressierten Affen!«
Diese verbale Ohrfeige kam von Nathalia, die damit Gottlobine von Philippstein treffen wollte. In Berlin hatte das Mädchen sie hinter ihrem Rücken schlechtgemacht und sich selbst als das Idealbild einer sittsamen Jungfrau dargestellt. Wahrscheinlich, sagte sich Nathalia, würde Gottlobine mit den Jahren immer mehr der Mutter gleichen und eine ähnlich bissige Person werden.
Im Gegensatz zu Graf Nehlen und Jürgen, die die Anspielung sogleich begriffen hatten, nahmen die beiden Damen Philippstein sie nicht einmal wahr. Die Mutter verteidigte immer noch mit Verve ihre Ansicht, dass Kinder bis zu dem Alter, in dem sie als vernünftig gelten konnten, in die Obhut von Gouvernanten gehörten, damit sie ihre Eltern nicht behelligten.
»Wie war das mit dem dressierten Affen? Gottlobine scheint mir einer zu sein«, wisperte Lore Nathalia zu, die sich über Rodegard von Philippsteins Vortrag amüsierte und nun zum nächsten Hieb ansetzte.
»Ich muss Ihnen recht geben, gnädige Frau. Wie wohltuend für ein Kind die Erziehung durch eine Gouvernante ist, kann man an mir ersehen. Meine Eltern starben beinahe noch vor meiner Geburt, und mein Großvater folgte ihnen fast auf dem Fuße. Da es keine weiteren Verwandten gab, befand ich mich bis zu dem Tag, an dem ich in die Höhere Töchterschule in die Schweiz geschickt
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