Juliregen
Leben türmte Probleme vor ihr auf, mit denen sie nicht mehr fertig zu werden glaubte.
»Mama, will Kekse!« Die Stimme des Jungen riss Hede aus ihrem Grübeln, und sie griff in die Schachtel mit den Keksen, wohl wissend, dass Fritz jedes Backwerk mit Begeisterung auf ihrer Chaiselongue zerkrümelte.
Während sie ihm einen Keks reichte, sah sie seine Kinderfrau an. »Ich muss jetzt wieder hinunter. Gib gut auf meinen Sonnenschein acht!«
»Das tu ich gewiss, Madame. Ich werde Ihnen niemals vergessen, dass Sie mich behalten haben, nachdem ich nicht mehr arbeiten konnte. Eine andere hätte das nicht getan!«
Hede hob verlegen die Hand. »Jetzt stelle mich nicht auf ein Podest, das mir nicht zusteht. Ich versuche nur, gerecht zu sein.«
»Sie sind mehr als das, Madame. Sie handeln nicht nur gerecht, sondern auch edel. Dafür danke ich Ihnen!«, sagte die Frau, ergriff Hedes Hand und küsste sie.
Immerhin hatte Hede nicht nur die langwierige Behandlung nach ihrer Verletzung durch einen zu rücksichtslosen Freier bezahlt, sondern ihr auch noch die Aufsicht über ihren Sohn übertragen. In den meisten Bordellen hätte sie ihre Verletzung entweder gar nicht überlebt, oder man hätte sie elend und krank, wie sie gewesen war, auf die Straße gesetzt. Daher versicherte sie Hede noch einmal, dass diese sich voll und ganz auf sie verlassen könne.
»Sie sollten eine eigene Wohnung für Fritz im Auge behalten, Madame. Es wäre für den Jungen nicht gut, in diesem Haus aufzuwachsen. Er könnte sonst so werden …« Die Frau brach ab und schlug sich auf den Mund. »Tut mir leid, ich wollte nichts Despektierliches sagen.«
»Er könnte sonst so werden wie mein Mann, meinst du? Das will ich auch nicht!« Hede küsste ihren Sohn auf die Stirn, reichte ihm einen weiteren Keks und wandte sich noch einmal an die Kinderfrau. »Du solltest die Tür zum Korridor abschließen und den Schlüssel bei dir tragen, damit Fritz nicht ausbüxt und hinunterläuft. Ich habe einen eigenen Schlüssel, und mein Mann – bei Gott, der kann klopfen!« Hede wusste selbst, dass dies auf Dauer keine Lösung war. Irgendwann würde der Junge die Tür offen finden und in jene Räume geraten, die er auf keinen Fall betreten durfte.
Mit der Sorge, ihr Leben nicht mehr meistern zu können, verließ Hede ihre Wohnung im zweiten Stockwerk und trat kurz darauf in den Empfangssalon des
Le Plaisir.
Die meisten Mädchen waren beschäftigt, doch zu ihrer Verwunderung traf sie Hilma und Dela an. Da Hilma sich immer mehr zur beliebtesten Hure ihres Etablissements entwickelte, fragte sie diese verwundert, ob niemand sie hatte engagieren wollen.
»Oh doch«, gab Hilma ungeniert zu. »Aber der Herr Baron Rendlinger hat sich für zehn Uhr heute Abend angemeldet, und den darf ich nicht ermattet empfangen.«
Hede nickte. Der Großindustrielle Rendlinger war einer der ältesten Stammkunden des
Le Plaisir
und besaß das Recht auf eine Vorzugsbehandlung. Dazu gehörte auch, dass das Mädchen, das er sich aussuchte, nicht gerade von einem anderen Kunden kam, wenn er das Bordell betrat. In letzter Zeit hatte Rendlinger eine Vorliebe für Hilma entwickelt, und so war es verständlich, dass diese auf ihn wartete.
»Dann bereite alles für den Empfang des Barons vor«, erklärte Hede und verzog bei dem Titel spöttisch die Lippen.
Auch mehr als zehn Jahre nach der Ausstellung seines Adelsbriefes war Rendlinger alles andere als ein Edelmann, sondern der rücksichtslos agierende Industrielle, der mittlerweile so viele Fabriken sein Eigen nannte, dass er wahrscheinlich kaum noch wusste, wo diese im Deutschen Reich verstreut lagen.
Im Gegensatz zu Hede fand Hilma den Industriebaron aufregend und freute sich auf sein Kommen. Rendlinger wählte sein Mädchen stets für eine ganze Nacht und ließ sich nicht lumpen. Es gab Champagner, Austern und andere Delikatessen, von denen sie früher nicht einmal den Namen gekannt hatte. Natürlich war er sehr anspruchsvoll im Bett, doch sie selbst war nicht prüde und gönnte gut zahlenden Kunden einen besonderen Service. Wie viele andere Huren träumte auch sie davon, einmal Hedes Beispiel zu folgen und ein eigenes Bordell aufmachen zu können. Daher versicherte sie der Prinzipalin, sie habe bereits alles für Rendlinger vorbereitet.
»Sehr gut! Auf dich kann ich mich verlassen. Doch was ist mit Dela?«
»Baron Rendlinger hat uns mitteilen lassen, dass Bankier von Grünfelder ihn begleiten wird. Da dieser bei seinen Besuchen gerne ein
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