Juliregen
nächsten Moment schämte sie sich ihrer boshaften Gedanken, denn diese beiden Männer hatten sich ihren Reichtum mit ihrer Hände Arbeit geschaffen und vermehrten ihn noch, während so mancher hochgeborene Herr sein stattliches Erbe mit Nichtstun verprasste.
»Ich wollte, wir wären schon da«, seufzte sie.
Jürgen blickte zum Fenster hinaus. »Es wird nicht mehr lange dauern, wir haben bereits die ersten Vororte von Berlin erreicht.«
»Hoffentlich erwartet Herr Dausend uns am Bahnhof! Ich würde die Möbel gerne so rasch wie möglich in Augenschein nehmen, um zu wissen, ob sich die Fahrt gelohnt hat.«
»Wenn er nicht wartet, suchen wir die Adresse auf, die er dir genannt hat. Wie war sie gleich wieder?« Nathalia sah Lore fragend an.
»Görlitzer Straße Nummer hundertvierunddreißig«, antwortete Lore.
»Bist du mir böse, wenn ich nicht mitkomme?«, fragte Mary. »Du weißt, mit Möbeln kenne ich mich nicht so gut aus. Außerdem will ich Dorotheas Besuch im Modesalon vorbereiten.«
»Wir kommen zu dir, sobald wir die Möbel besichtigt und das gekauft haben, was uns gefällt«, versprach Lore.
Sie wusste, dass ihre Freundin sie selbstverständlich begleiten würde, wenn es ihr wichtig wäre. Doch Mary hatte ihre Beine am Vortag über Gebühr angestrengt, und man sah ihr an, dass sie unter Schmerzen litt.
»Übrigens brauche ich ebenfalls ein … nein, besser zwei neue Kleider«, ließ Nathalia sich vernehmen.
Dieser Wunsch kam für Lore überraschend, denn ihre junge Freundin hatte sich bereits im Frühjahr großzügig mit neuer Garderobe eingedeckt. Sie musterte Nathalia und stellte fest, dass diese zwar noch immer einen störrischen Zug um den Mund hatte, ihre Augen aber in einem Licht leuchteten, das sie bisher noch nie bei ihr entdeckt hatte. Wollte Nathalia mit den neuen Kleidern einem Mann imponieren?
Lore richtete ihren Blick unwillkürlich auf Jürgen. Dieser hatte in der kurzen Zeit, seit sie ihn kennengelernt hatte, viel an Selbstsicherheit gewonnen und sich bei der Einrichtung von Klingenfeld als unentbehrlicher Helfer entpuppt. Auch wenn er nicht der Mann war, den sie Nathalia gewünscht hätte, so schien er weitaus besser zu ihr zu passen als Leutnant von Bukow oder Edgar von Gademer, der ständig beweisen wollte, wie überlegen er anderen Menschen war, seinem Großonkel aber um den Bart ging.
»Worüber denkst du gerade nach?«
Mit dieser Frage brachte Nathalia Lore in Verlegenheit. Sie hüstelte, um Zeit zu gewinnen, und setzte dann ein verkrampftes Lächeln auf. »An Herrn Dausend und seine Möbel!«
Nathalia ahnte, dass dies nicht stimmte, wollte aber in Gegenwart der anderen nicht nachfragen. Daher wies sie durch das Fenster auf die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, und erklärte, dass sie ihr Ziel gleich erreicht hätten.
Jürgen stand auf, weil er sich um das Gepäck kümmern wollte, während Lore sicherheitshalber den Zettel aus ihrer Handtasche holte, auf dem der Möbelhändler seine Adresse notiert hatte. Sie atmete tief durch und sagte sich, dass sie ihn schelten würde, wenn er sein Versprechen vergessen hatte und nicht auf sie warten würde.
Das war jedoch nicht der Fall. Kaum hatte der Zug den Lehrter Bahnhof erreicht, sah Lore Laabs auf dem Bahnsteig auftauchen und auf die Waggons der ersten Klasse zueilen. Sie stieg als Erste aus und hob die Hand, um sich ihm bemerkbar zu machen. »Hier sind wir, Herr Dausend! Es freut mich, dass Sie gekommen sind.«
»Aber das war doch selbstverständlich, gnädige Frau. So ein gutes Geschäft lasse ich mir ungern entgehen.«
Bei diesen Worten stellte Laabs sich die Belohnung vor, die Ottwald von Trettin ihm versprochen hatte, und er atmete erleichtert auf, als nach Lore eine junge Dame den Zug verließ, die der Beschreibung des Freiherrn nach nur Komtess Nathalia sein konnte. Es handelte sich um ein hübsches, zierlich gewachsenes Mädchen, das ihm unter anderen Vorzeichen als Hure ein Vermögen hätte einbringen können. Viele Männer, die in die Bordelle kamen, mochten Mädchen, die ihnen körperlich so offensichtlich unterlegen waren.
Er schob diesen Gedanken rasch beiseite und verbeugte sich erst einmal vor den Damen. Unterdessen winkte ein junger Mann mehrere Dienstmänner heran und befahl ihnen, sich der Koffer der Gräfin und ihrer Begleiterinnen anzunehmen. Laabs musterte ihn verstohlen und ordnete ihn als harmlos ein. Der Kerl würde Ottwald von Trettins Pläne nicht durchkreuzen.
»Wenn Sie bitte mitkommen wollen!«
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