Julischatten
heute.
Die Hitze drang in ihn ein, strömte durch seine Adern und Knochen und versengte die kalte Angst. Lukas spürte ein Beben in seinem Inneren, spürte, wie etwas ans Licht wollte. Es war ein Lied aus den Tiefen seines Unterbewusstseins. Gesang ohne Worte. Lukas hob den Kopf und ließ die Töne aus seiner Kehle strömen. Eine menschliche Stimme im Chor der Flammen. Er stand mit dem Rücken zur Schlucht, nur einen Meter vom Abgrund entfernt, das Gesicht dem Feuer zugewandt. Lukas sang gegen die Angst. Er sang gegen die gefräßigen Flammen, gegen Enttäuschung und Verrat, sang um sein Leben.
Als durch das Prasseln des Feuers Donnergrollen an seine Ohren drang, schöpfte er wieder Hoffnung. Doch inzwischen mussten die Flammen den Rand der Felsplatte erreicht haben. Bald würde er auf dem Stein gegrillt werden wie auf einer glühenden Herdplatte.
Es war so heiß, dass er das Gefühl hatte, Feuer zu schlucken. Es versengte seine Kehle und er konnte nicht weitersingen. Schützend hob er die Arme vors Gesicht. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, drehte sich um und tastete sich die wenigen Schritte zur Felskante vor, bis es nicht mehr weiterging und er am Abgrund stand. Von unten stieg kühlere Luft herauf und Lukas machte ein paar tiefe Atemzüge. In den Atem des Feuers mischte sich der Geruch von nahendem Regen und der Donner klang wie Musik in Lukas’ Ohren.
Er sah noch einmal die Bilder aus seinem Traum vor sich. Er, Jimi und Sim an dieser Schlucht, ihr Leben in seinen Händen. Er sah, wie er Jimi in den Abgrund stürzen ließ und selbst hinterherfiel. Ohne Sim. Sim waren Flügel gewachsen. Sie breitete ihre Schwingen aus und flog.
Lukas fiel.
Mit zunehmender Panik beobachtete Sim vom Horse Hill aus den dunklen Rauch, der hinter den östlichen Hügeln zum Himmel aufstieg. Tante Jo hatte ihr von Präriefeuern erzählt, die sich rasend schnell ausbreiteten. Aber doch nicht ausgerechnet heute, wo ihre Tante im Krankenhaus lag und sie allein war mit Almona, deren Nerven schon jetzt völlig blank lagen, weil ihre Eltern in einem Holzhaus hinter Sharps Corner wohnten, nicht weit weg von den Hügeln, auf denen es brannte?
Die Indianerin hatte ihr erzählt, dass sämtliche Feuerwehrwagen im Reservat völlig veraltet waren und gegen einen Präriebrand meistens nicht viel ausrichten konnten. In der Regel musste Hilfe aus Spearfish angefordert werden, aber bis die da war, konnte es dauern. Almona hatte ihr von einem Feuer in den Slim Buttes erzählt, das die Feuerwehr zwei Wochen lang nicht unter Kontrolle bekommen hatte, weil der Wind immer wieder die Richtung gewechselt hatte.
Sim hatte Jo auf ihrem Handy im Krankenhaus angerufen.
»Wenn das Feuer zu sehen ist, öffnet die Koppeln, damit die Pferde weglaufen können, packt Juniper und ihre Welpen in Almonas Wagen und verschwindet, so schnell ihr könnt«, hatte sie gesagt.
Dazu durfte es einfach nicht kommen. Hinter den Rauchwolken stand eine dunkle Gewitterwand und Sim hoffte auf einen mächtigen Regenguss. Sie wünschte, Lukas wäre hier. Er wusste immer, was zu tun war. Aber er war nicht aufgetaucht, obwohl er es versprochen hatte. Und sein Handy war ausgestellt, was Sim noch merkwürdiger fand.
Ihre Nervosität wuchs und wuchs. Jos Pferde hatten sich dicht um die Tränke geschart. Sie witterten das nahe Feuer und es machte ihnen Angst.
Plötzlich ertönte ein schrilles Wiehern und Ghost kam über die Hügel gejagt – ohne seinen Reiter auf dem Rücken.
Sim hatte das Gefühl, ihr Herz müsse zerspringen. Ghost lief zu den anderen Tieren und sie ging zu ihm, um ihn sich genauer anzusehen. Zitternd und mit schweißnassen Flanken stand der Schecke da und scharrte mit den Hufen. Er schüttelte seine Mähne. Schaum troff ihm aus dem Maul.
Vorsichtig streckte Sim die Hand nach ihm aus. »Was ist passiert, Ghost? Wo ist Luke?«
Ghost rollte mit seinen Geisteraugen und schnaubte. Sein linkes Hinterbein blutete. Vermutlich hatte er sich beim Sprung über einen der Stacheldrahtzäune verletzt. Diese Erkenntnis löste eine schreckliche Gedankenkette in ihrem Kopf aus. Pferde hatten Angst vor Feuer. Ghost war vor dem Feuer davongelaufen und hatte Lukas abgeworfen. Vielleicht hatte er sich etwas gebrochen und lag irgendwo verletzt in der Prärie, ohne Chance, den Flammen zu entkommen.
Sim rannte den Hügel hinab, stieg durch den Weidezaun und stürmte in den Laden. »Wir müssen die Feuerwehr anrufen«, rief sie.
Almona starrte sie entgeistert an. »Aber das
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