Julischatten
wuchsen. Erst klein und kaum zu sehen, dann größer, bis sie einen Wacholderbusch in Brand setzten, der aufloderte wie eine Fackel.
»Ich sehe was, das du nicht siehst, Amigo«, murmelte er. Drehte sich um und rannte hinunter zu seinem Wagen.
Als er am Ende des Fahrweges auf die Straße bog, stand die dunkle Rauchwolke bereits zwischen den Hügeln. Jimi trat aufs Gas und ließ Lukas hinter sich.
Das lang gezogene Heulen eines Wolfs drang an Lukas’ Ohren und sein Magen verkrampfte sich. Obwohl er Jimis Anwesenheit längst gespürt hatte, war die Gewissheit ein Schock für ihn. Warum hielt Jimi ihn zum Narren? Warum war er erst gekommen, wenn er dann ohne ein Wort wieder verschwand wie ein Geist?
Lukas hasste es, wenn jemand Spielchen mit seinem Handicap trieb. Zu Anfang ihrer Freundschaft hatte es Jimi ein diebisches Vergnügen bereitet, ihm makabre Streiche zu spielen. Eine tote Maus auf seinem Teller, ein nasses Handtuch im Bett, Geschirrspülmittel in seinem Wasserglas – es gab so viele Möglichkeiten, einen Blinden zu ärgern. Doch sie waren keine kleinen Jungen mehr und hier ging es auch nicht um eine tote Maus auf seinem Teller. Jimis Leben war in Gefahr und er hatte keine Gelegenheit gehabt, ihm das zu sagen.
Ein Schwarm Vögel flatterte mit ängstlichen Schreien aus dem Gras und Lukas zuckte erschrocken zusammen. Plötzlich roch er es: Feuer. Irgendwo, ganz in der Nähe, brannte es. Das musste Jimi doch bemerkt haben. Er wollte nach ihm rufen, bekam jedoch keinen Ton heraus. Seine Rechte umklammerte das Handy wie einen rettenden Strohhalm.
Der beißende Geruch wurde stärker, vermutlich stand er genau in Windrichtung. »Jimi«, brüllte er mit ganzer Kraft.
Nichts.
In diesem Moment hörte Lukas das Aufheulen eines Motors. Ein Wagen raste davon. Mit zitternden Fingern wählte er die Notrufnummer der Polizei.
»Die Prärie brennt«, rief er. Aber noch bevor er sagen konnte, wo er sich befand, war die Verbindung unterbrochen. Sein Handy piepte, der Akku war leer.
Lukas ließ den Arm sinken, er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Er wünschte, ihm würden Flügel wachsen und er könnte sich wie die Vögel emporschwingen in kühlere Schichten der Luft – doch er konnte sich nicht rühren.
Der süßlich scharfe Geruch nach brennendem Salbei wurde immer stärker, er biss in seine Lungen und würgte ihn. Es war, als lauere in seiner Nähe ein gefährliches Tier, das jeden Moment zuschlagen konnte. Lukas konnte es hören, das Feuertier, er konnte hören, wie es fraß und immer näher kam.
Hinter ihm war die Schlucht, vor ihm das Feuer. Bestimmt gab es eine Möglichkeit zu entkommen, doch dazu hätte er gesunde Augen gebraucht. Wenn er in die falsche Richtung lief, war er tot. Er pfiff nach Ghost und ein durchdringendes Wiehern war die Antwort. Vermutlich war das Feuer genau zwischen ihnen. Rauch und Flammen ließen Pferde panisch werden und würden den Schecken letztendlich in die Flucht jagen.
Angst summte durch Lukas’ Adern und sein Herz fing an zu rasen. Wenn die Angst sich seiner bemächtigte, wurde alles dunkel und die Sinne gehorchten ihm nicht mehr. Angst machte ihn blind, nahm ihm den Atem, schmerzte wie eine offene Wunde. Doch noch tiefer schmerzte Jimis Verrat. Sein Freund war nicht mehr sein Freund, sondern sein Feind. Sie waren Hunka-Brüder, hatten sich geschworen, für den anderen da zu sein, auf Leben und Tod. Doch Jimi hatte den Eid gebrochen. Er gab ihn den Flammen preis, überließ ihn seinem Schicksal.
Das Feuer fraß sich die Anhöhe hinauf, es konnte nur noch wenige Meter von der Felsplatte entfernt sein. Obwohl hier oben kaum etwas anderes wuchs als Gras, schienen die Flammen meterhoch zu schlagen. Der Todesschrei eines Kaninchens riss Lukas aus seiner Starre.
»Hilfe!«, schrie er. Doch sein Hilferuf wurde vom Prasseln des Feuers verschluckt. Es knisterte, pfiff und toste. Das Feuer fauchte wie ein Berglöwe. Es sang, es brüllte, es schrie. Und fraß: Grashalme, Wacholderbüsche, Erdbewohner, Sauerstoff.
Lukas’ Brust krampfte sich zusammen. Rauch krallte sich in seine Lunge und sein Hals brannte, als hätte er Feuer geschluckt. Qualm brannte auch in seinen Augen. Er musste husten und schnappte nach Luft. Spürte seinen Puls wie Hammerschläge.
Als glimmende Asche auf ihn herabregnete, musste er an seine Vision denken, die er auf der Hanbleceya erhalten hatte. Das Feuer, der Steinkreis, die weiße Asche. Er selbst als alter Mann.
Er würde nicht sterben. Nicht
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