Julischatten
Kräfte und überschätzte sie nicht. Körperlich war Bernadines Sohn ihm weit überlegen. Dafür trug Jimi den Wotawe um den Hals – den Kriegstalisman von Crazy Horse, der den Häuptling einst unverwundbar gemacht hatte.
Tyrell bot Jimi keinen Stuhl an, er machte es wie immer so kurz wie möglich. Jimi bekam von ihm eine bunte Plastiktüte ausgehändigt und warf einen kurzen Blick hinein. Acht Kokstütchen à zwei Gramm im Wert von je fünfzig Dollar. Eines der Tütchen war für Jimis Eigenbedarf. Er konnte eine Line ziehen und sich für eine kurze Zeit unschlagbar fühlen. Wenn er wollte, konnte er es aber auch verkaufen – es war sein Lohn.
Jimi nickte ungeduldig. Nur raus hier.
»Ich bekomme im Laufe der nächsten Woche dreihundertfünfzig Mäuse von dir.«
»Geht klar. Wann ist die nächste Tour?«, fragte Jimi beiläufig.
»Montag in einer Woche wahrscheinlich. Bist du dabei?« Tyrells Augen funkelten wie schwarze Murmeln.
»Ja, klar.«
»Okay.«
Jimi wandte sich zum Gehen. Als er im Türrahmen stand, sagte Tyrell: »Ach, Jimbo?«
Jimi rutschte das Herz in die Hose. »Ja?« Er drehte sich um.
»Halte die Augen offen. Ich glaube, das FBI ist im Res.«
»Was?« Instinktiv legte sich Jimis Hand auf den glatten Kiesel, der verborgen unter dem T-Shirt an einem Lederband um seinen Hals hing.
Tyrell lachte, dass seine mächtigen Schultern zuckten. »Mach dir nicht ins Hemd, Bro, es ist bloß ein Gerücht. Und nun verschwinde, sonst verpasse ich Spiderman.«
Wie Jimi es hasste, wenn Tyrell ihn Bro nannte, auch wenn er wusste, dass er es nur tat, um ihn zu ärgern. Er verließ das Haus und lief zurück zum Trailer, wo er sich im Dunkeln mit dem Rücken gegen die Blechwand lehnte und erst einmal tief durchatmen musste. Tyrells Bemerkung hatte ihn aufgeschreckt. War wirklich das FBI im Reservat? Hatten sie Tyrell – hatten sie ihn selbst womöglich schon auf dem Kieker? Oder wusste Fucking-Tyrell etwas von dem Kokspäckchen und wollte ihm Dampf machen?
Er nahm sich vor, extrem vorsichtig zu sein. Besonders, was das Päckchen anging. Dreihundert Gramm reines Kokain, das bedeutete siebentausendfünfhundert Mille. Genug Geld, um ein ordentliches Auto zu kaufen und hier zu verschwinden. Nur, dass es unmöglich war, den Stoff einfach im Res zu verklingeln. In seinem Revier würde Tyrell ihm sehr schnell auf die Schliche kommen. Außerdem war es gut möglich, dass das FBI tatsächlich im Reservat war.
Auf das Dealen mit Drogen standen harte Strafen und Jimi hatte nicht vor, für Jahre hinter Gitter zu gehen. Eingesperrt zu sein, war eine schreckliche Vorstellung. Lieber tot als im Gefängnis, da hielt er es wie Crazy Horse. Der hatte allerdings zuletzt doch nachgegeben und war mit seinen Leuten nach Fort Robinson gekommen. Aber nur, weil sie hungerten und froren und er nicht wollte, dass Frauen und Kinder starben wie die Fliegen. Diese Schwäche war ihm zum Verhängnis geworden.
Als Jimi die Stufen zur kleinen Veranda vor dem Eingang des Trailers hinaufstieg, saß Lukas auf der zerfledderten Autositzbank unter dem Blechdach und lauschte in die Nacht. Komisch, aber Lukas’ Anblick gab ihm wieder etwas Sicherheit. Alles würde gut werden.
Er setzte sich neben seinen Freund, nahm seine Hand und legte einen Packen zusammengerollte Dollarscheine hinein.
»Danke, Champ.« Lukas’ Finger schlossen sich um die Geldscheine.
Wie immer ließ Jimi ihn in dem Glauben, das Geld käme von Bernadine. Anfangs war das auch der Fall gewesen, aber seit ein paar Jahren gab sie Lukas kaum noch etwas von dem Geld ab, das sie vom Sozialamt für ihn bekam. Und soweit Jimi wusste, war das eine ganze Menge.
»Lass dich nicht wieder übers Ohr hauen, okay?«, sagte er. Gelegentlich kam es vor, dass jemand Lukas einen Fünf- oder gar Zehndollarschein abknöpfte, obwohl er nur einen Dollar zahlen brauchte. Die Dollarscheine hatten die gleiche Größe, deshalb konnte er sie nicht unterscheiden. Seitdem wechselte Jimi seinem Freund das Geld meist in Ein-Dollar-Noten.
Lukas ließ die Scheine in seiner Hosentasche verschwinden.
Jimi holte seinen Tabak heraus und drehte sich eine Zigarette. Er schob sie zwischen die Lippen, formte eine hohle Hand um die kleine Flamme des Feuerzeugs und zündete die Zigarette an. Er zog den Rauch in die Lunge und lehnte den Kopf zurück.
Wie er hasste, was er da tat: Koks an Leute im Reservat zu verkaufen. An sein eigenes Volk. Weißes Pulver, das Hunger, Schmerz und Müdigkeit vertrieb und einem das
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