Julischatten
Lippen formten das Wort »Hilfe«, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Sie starrte auf Jimis tätowierten Arm, sah die Schlange, die sich leise zischend von seinem Handgelenk löste und auf sie zukroch. Panisch versuchte sie, sich von ihren Fesseln zu befreien, während das Zischeln immer näher kam. Vergeblich. Als die Schlange sie erreicht hatte und ihre gespaltene Zunge aus dem Maul schoss wie ein kleiner schwarzer Pfeil, schrie Sim auf und versuchte mit letzter Anstrengung, sich zur Seite zu rollen.
Sim fiel, landete hart auf dem Boden und war schlagartig wach. Das nass geschwitzte Bettlaken hatte sich fest um ihren Körper gewickelt und sie hatte Mühe, sich daraus zu befreien. In diesem Moment flog die Tür auf und ihre Tante kam ins Zimmer gestürmt. Der Gesang und die Trommeln aus ihrem Albtraum wurden lauter und Kaffeeduft stieg in Sims Nase. Träumte sie etwa immer noch? A dream within a dream? Sie stöhnte.
»Himmel, Mädchen«, rief Tante Jo. »Was machst du denn da? Morgendliche Turnübungen?«
Also doch kein Traum. »Sehr witzig.« Sim rappelte sich auf und rieb sich die Augen. Sie war tief gefallen, das Bett hatte zwei übereinandergestapelte Matratzen. »Was ist das überhaupt für ein Geschrei?«, fragte sie mürrisch. Jo zog den Vorhang auf und Sim blinzelte in die Morgensonne.
»KILI Radio«, antwortete Jo. »Powwow-Musik.«
Sim rieb sich den Hintern.
»Hast du dir wehgetan?«
»Geht so«, brummte sie. »Wieso muss das Bett eigentlich zwei Matratzen haben, das ist doch idiotisch!«
Tante Jo zuckte mit den Achseln. »Ist üblich so in Amerika.«
»Und warum?«
»Ich nehme an, es ist ein Relikt aus der Pionierzeit, als die Leute versuchten, möglichst hoch zu schlafen, damit ihnen keine Schlange oder anderes Getier ins Bett kroch.« Sim klappte der Mund auf und Jo fing an zu lachen. »Keine Angst, hier drinnen bist du vor Schlangen sicher. Und nun ab ins Bad, das Frühstück ist fertig.«
Es gab Toastbrot, Rühreier und selbst gemachte Beerenmarmelade, Orangensaft und Kaffee. Sim war geduscht und hellwach und hungrig. Während sie aßen, zählte Jo die Aufgaben auf, die Sim fortan übernehmen sollte. Unaufgefordert, wie sie ausdrücklich betonte. Dinge wie Abwaschen, sich um die Wäsche kümmern, das Bad sauber halten, dafür sorgen, dass die Tiere (Hund, Katzen, Pferde!) Wasser und Futter hatten. Waren diese Arbeiten erledigt, hatte Sim sich im Laden einzufinden und würde von Jo neue Anweisungen erhalten.
Das klang nach Stress, aber sie protestierte nicht, weil sie nicht schon wieder mit ihrer Tante streiten wollte. Zu ihrem Erstaunen fiel während des gemeinsamen Frühstücks kein Wort über ihren kurzen Disput vom gestrigen Abend. Es schien, als hätte Tante Jo vor, sie in Ruhe zu lassen, wenn sie ihre Aufgaben ohne Widerspruch erledigte.
Nun ja, nicht ganz. Tante Jo hatte nämlich ganz entschieden ein Problem mit ihren Klamotten.
»Abgesehen davon, dass deine Sachen völlig unpraktisch sind, passen sie auch nicht ins Reservat, Simona. Die Leute werden dich anstarren, als wärst du Lady Gaga.«
Wow. Tante Jo war auf dem Laufenden.
»Das bin ich gewöhnt«, antwortete sie. »Soll ich in XXL-T-Shirts und 08/15-Shorts herumlaufen, nur damit ich nicht auffalle?«
Jo zuckte mit den Achseln. »Falls du es dir anders überlegen solltest, die Kleiderkiste im Laden steht dir zur Verfügung.«
Nach dem Frühstück zeigte Jo ihrer Nichte den kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus und die Gartengeräte. »Beete hacken und Unkrautbekämpfung – das ist dein Job für heute. Aber zuerst solltest du zu Hause anrufen. Ich habe Klaus eine Mail geschickt, dass du heil angekommen bist, habe ihm aber geschrieben, dass du dich noch einmal persönlich meldest.« Jo ging zurück ins Haus.
Sim folgte ihr. Sie hatte keine Lust, ihre Eltern anzurufen, aber darum kam sie wohl nicht herum. Schon nach dem ersten Klingeln hatte sie ihre Mutter am Apparat. In Deutschland waren Schulferien und vermutlich hatte sie bereits neben dem Telefon gelauert. Merkwürdig, die Stimme ihrer Mutter (Sabine) so nah zu hören, wo sie doch so weit weg war. Das Gespräch verlief wie alle Gespräche zwischen ihnen in den letzten Monaten: kurz und schmerzlos.
Der Flug war okay gewesen, das Abholen hatte geklappt, Tante Jo ist in Ordnung, das Reservat ist eine schreckliche Einöde und sie müsse jetzt anfangen, im Garten zu arbeiten.
»Wir haben dich lieb«, sagte ihre Mutter.
»Hm«, brummte Sim und legte auf. Keine Spur von
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