Julischatten
Heimweh, nicht im Geringsten. Das einzig Gute an ihrem Zwangsaufenthalt war, dass zwischen ihr und ihren Eltern der große weite Ozean lag.
Pünktlich um zehn öffnete Tante Jo den Laden. Zur gleichen Zeit stand Sim mit einer Hacke in der Hand über einem Beet und starrte auf die verschiedenen Pflanzen. Kraut oder Unkraut, war die große Frage. Man sollte das Schaf eben nicht zum Gärtner machen. Obwohl ihre Tante die Beete im Gemüsegarten gewässert hatte – offensichtlich noch vor Sims Sturz aus dem Bett – war der Boden hart wie Beton. Das hohe Präriegras versuchte, das urbar gemachte Land zurückzuerobern (oder hatte es nie aufgegeben), die Wurzeln waren lang und reichten tief. Sim hasste Gartenarbeit, hatte sie schon immer gehasst, und es war das Letzte, was sie hier im Indianerland erwartet hatte.
Wütend hackte sie auf den festen Boden ein. Schon nach kurzer Zeit waren ihre Sachen (sie trug orangefarbene Shorts, die mit blauen Erdbeeren bedruckt waren, und ein flaschengrünes Top mit einem kreisrunden Labyrinth aus weißen Wäscheknöpfen) staubig und verschwitzt. Ihre Füße, die in den knöchelhohen Lederstiefeln stecken, glühten.
Nach dem Telefonat mit ihrer Mutter hatte Sim interessehalber einen Blick in die Kleiderkiste im Laden geworfen, einem großen Karton mit gebrauchten Kleidungsstücken, die ihre Tante von allen möglichen Leuten gespendet bekam, um sie an Bedürftige weiterzugeben. Die Klamotten waren langweilig, sie wäre sich darin vorgekommen wie eine Vierzigjährige. Also hatte sie ihre Sachen anbehalten, auch wenn die Gefahr bestand, sie bei der Gartenarbeit zu ruinieren. Gegen Verbannung und Zwangsarbeit konnte sie wenig tun, aber sie wollte wenigstens versuchen, ihre Würde zu bewahren.
Erneut ließ sie die Hacke auf die Erde sausen, doch das Ding kratzte bloß an der Oberfläche, obwohl Sim eine Menge Kraft aufwandte.
Sie ging auf die Knie, zerrte und rupfte verbissen mit beiden Händen am Gras und am Unkraut, das an manchen Stellen einen halben Meter hoch wuchs und gesünder aussah als die Tomatenpflanzen. Wenigstens die erkannte sie zweifelsfrei. Wie eine Furie stürzte sie sich auf alles Grün, das nicht essbar aussah. Schließlich griff sie wieder zur Hacke und malträtierte, was übrig geblieben war. Als die Sonne ums Haus wanderte, wurde es unerträglich heiß, aber das merkte Sim in ihrer Rage gar nicht.
Als sich eine Schlange zwischen ihren Füßen hindurchschlängelte – sie war mindestens einen Meter lang –, entfuhr Sim ein gellender Schrei. Automatisch hob sie die Hacke, um ihr Leben zu verteidigen.
»Nicht«, rief ihre Tante, die wie ein Geist auf der hinteren Veranda erschienen war und zu ihr herabblickte. »Das ist doch bloß Bully, der ist harmlos.« Jo kam die Stufen herunter auf sie zu.
Die Schlange glitt im Gras davon und Sim ließ die Hacke sinken. Bully? Wollte Tante Jo sie auf den Arm nehmen? Sie blickte an sich herunter. Ihre Knie waren aufgeschrammt, die Finger vom Gras zerschnitten und der blaue Nagellack abgeblättert. Ihr Herz klopfte, als wollte es aus der Brust springen, und das nicht nur vor Schreck, sondern weil sie völlig fertig war.
Sie hatte die Nase gestrichen voll. Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen und am liebsten hätte sie ihrer Tante die bescheuerte Hacke vor die Füße geschleudert. Aber noch ehe sie es tun konnte, schlug Jo entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. »Ach du meine Güte«, rief sie, »du siehst ja furchtbar aus. Es tut mir leid, aber ich hatte dich völlig vergessen.«
Zu perplex, um auch nur ein Wort hervorzubringen, starrte Sim ihre Tante an. Jo hatte sie einfach vergessen und gab es auch noch zu? Sie warf die Hacke auf den Boden und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Mir reicht’s. Das ist doch alles für die Katz. Deine dämliche Hacke ist eine Krücke und der Boden viel zu fest dafür. Ich buckle mich hier krumm und am Ende wird nichts dabei herauskommen, außer, dass ich von einem Schlangenmonster gebissen werde. Wenn du hier in der Pampa Radieschen ernten willst, dann kümmer dich selber darum. Ich bin nicht deine Sklavin.«
Sim marschierte an ihrer Tante vorbei auf die Veranda und verschwand türenschlagend im Haus. Sie ging ins Bad und wusch sich den Dreck von Gesicht, Händen und Armen. Die Schminke, die sie am Morgen noch sorgfältig aufgetragen hatte, war zu einer grotesken Maske verlaufen. Wütend schrubbte Sim sie ab. Hier interessierte es ja doch niemanden, wie sie aussah.
Als sie
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