Julischatten
(auch die seiner Mutter), lauschte voller Staunen auf das, was sie zu sagen hatten. Er begriff, dass auch die Toten unter ihnen waren.
Als die Prärie um ihn herum plötzlich in Flammen aufging, machten die Menschen einfach weiter mit dem, was sie gerade taten, als würden sie die Gefahr nicht sehen. Rotes Feuer loderte auf, walzte über sie hinweg und ihre Stimmen erstarben eine nach der anderen. Vor Lukas machte das Feuer halt. Im Steinkreis des Medizinrades war er sicher vor den alles verzehrenden Flammen, doch die Hitze drohte, ihm das Herz in der Brust zu schmelzen.
Er wusste sich keinen anderen Rat, als den Kopf in den Nacken zu legen und zu singen. Mit seinem Lied, das von der verbrannten Erde kam, bat er Wankan Tanka um Hilfe. Und der Große Geist erhörte ihn. Der blaue Himmel zerbarst in Scherben, die als Regen herabfielen und das Feuer löschten. Zurück blieb weiße Asche, die sich wie Schnee auf sein Haar legte und den verbrannten Boden düngte, damit er neues Leben hervorbringen konnte.
He Dog hatte ihm später seine Vision gedeutet. Dass seine Augen zwar blind waren, er jedoch das Herz eines Sehers hatte. Dass es seine Aufgabe war, die Verbindung zwischen den Lakota und ihrer alten Kultur wieder neu zu knüpfen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, würde er viele Lieder lernen und harte Prüfungen bestehen müssen, am Ende jedoch ein weiser alter Mann sein.
»So wie ich«, hatte He Dog behauptet und gelacht, als er merkte, dass die Vision Lukas Angst einjagte.
Seufzend setzte Lukas sich auf und zog die Beine in den Schneidersitz. Im Gras machte es hundertmal Plopp. Das waren die Grashüpfer, die er aufgeschreckt hatte und die bei ihrer Landung auf den Halmen wie große Regentropfen klangen. In ein paar Metern Entfernung graste Ghost Face. Lukas bräuchte bloß leise zu pfeifen, dann würde das Pferd kommen und ihm seinen süßen Grasatem ins Gesicht blasen. Er konnte sich auf Ghost Face verlassen, der ihm seit vier Jahren ein treuer Freund war.
Jimi hatte das Fohlen mit den unheimlichen Augen und der schönen Scheckenzeichnung auf einem Rodeo entdeckt und es seinem Besitzer abgekauft, um es Lukas zu schenken. Ghost war halb Pinto, halb QuarterHorse. Er war nicht so groß wie Black Arrow, Jimis Rappe, aber kräftiger und weniger launisch. Von Anfang an waren sie ein unzertrennliches Duo gewesen, genauso wie Jimi und er.
Lukas klappte den Deckel seiner Armbanduhr auf (ein Geschenk von Michael, dem deutschen Journalisten) und tastete nach den Zeigern. Die Sonne schien nun schon seit einer halben Stunde auf Lukas’ Gesicht, so lange, wie er auf Jimi wartete. Lukas verehrte die Sonne. Er liebte ihre Wärme, das Licht, das durch seine Augenlider bis in sein Inneres drang und alles in ihm zu erhellen schien. Aber die Dunkelheit, die ihn einhüllte, kannte keine Schattierungen, sie blieb immer gleich. Wakan Tanka hatte ihm diese Prüfung auferlegt und Lukas haderte nicht mit seinem Schicksal.
Im Herbst würden Jimi und er zusammen aufs College gehen. Jimi hatte nicht viel am Hut mit Schule und Ausbildung (das Einzige, wofür er sich wirklich interessierte, waren Mädchen), deswegen hätte er im letzten Jahr fast die Highschool nicht geschafft. Mit Lukas’ Hilfe hatte es dann doch noch geklappt. Und nun hatten sie eine Abmachung: Jimi sollte seinen Abschluss als Automechaniker machen und Lukas würde dafür sorgen, dass er ihn auch schaffte.
Lukas schob sich den Schirm seiner Baseballkappe tiefer ins Gesicht. Die Grashüpfer machten plopp. Es war Ende Juni und die Nachmittagssonne glühte über der Prärie. Schon seit zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet und das spröde Gras pikte ihn in den Rücken.
Diesen Ort am Rande einer felsigen Schlucht hatte Jimi vor ein paar Jahren entdeckt und ihn mit hierher genommen. Von da an war der grasbewachsene Hügel mit seinen duftenden Salbeiinseln zu Lukas’ Lieblingsplatz geworden. Manchmal saß er an der Kante der großen Felsplatte, von der die Schlucht fast dreißig Meter abfiel, und ließ die Füße baumeln. Dann atmete er den harzigen Duft der Pinien, die auf dem Grund wuchsen, lauschte dem Rauschen der Wipfel und dem Pfeifen des Adlerpärchens, das irgendwo in der Nähe sein Nest hatte und sich im Aufwind treiben ließ.
Der Nachteil dieses Platzes war, dass es keinen Schatten gab. Nur ein paar einzeln stehende Wacholderbüsche wuchsen auf dem Hügel. Wenn Jimi nicht bald auftauchte, würde Lukas einen Sonnenstich bekommen. Pünktlichkeit war
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