Julischatten
aus dem Bad kam, war ihre Tante dabei, das Essen vom Vorabend aufzuwärmen. Zwei Teller standen auf dem Tisch.
»Keinen Hunger«, murmelte Sim und verschwand in ihrem Zimmer. Doch ihre Tante kam hinterher.
»Ich hab gesagt, dass es mir leidtut, okay? Ich hatte jede Menge Kundschaft im Laden und habe einfach nicht mehr daran gedacht, dass du da draußen arbeitest. Du darfst deinen Verstand nicht ausschalten, während du die Aufgaben erledigst, die ich dir gebe. Du hast recht, du bist nicht meine Sklavin, Simona. Du bist meine Nichte. Du brauchst einen geregelten Tagesablauf und ich brauche deine Hilfe, sonst schaffe ich das alles nicht.«
Mit mürrischem Gesicht blickte Sim ihre Tante an. So lief das also: Man befolgte die Befehle der Erwachsenen, um es ihnen recht zu machen, und dann hieß es: »Du darfst deinen Verstand nicht ausschalten.« – »Wie schaffst du es dann, wenn ich nicht da bin?«, fragte sie ungehalten.
»Meistens helfen die Gäste, die bei mir wohnen. Oder ich bezahle jemanden dafür. Du wirst natürlich auch etwas bekommen.«
»Du willst mich bezahlen?« Sim glaubte, sich verhört zu haben.
»Ja, natürlich. Was dachtest du denn? Mehr als fünf Dollar die Stunde kann ich dir allerdings nicht geben.«
Die Tatsache, dass ihre Tante sie für die Plackerei bezahlen wollte, nahm Sim den Wind aus den Segeln. Fünf Dollar die Stunde war ein Hungerleiderlohn, aber besser als nichts.
»Ist nicht die Wucht«, sagte sie, »aber ich bin schließlich auch keine Fachkraft.«
Jo lachte. »Ja, meine Indianerminze musste daran glauben, aber das ist halb so wild. Das nächste Mal nehme ich mir die Zeit, dir zu zeigen, was essbar ist und was nicht. Und nun leiste mir wenigstens Gesellschaft beim Essen, wenn du schon nicht hungrig bist.«
Sie setzten sich und Jo tat sich auf.
Sim schob ihrer Tante den Teller hin. »Und was ist mit Bully? Weiß er, dass ich deine Nichte bin?«
»Bully ist eine Bullsnake. Sie frisst Mäuse und Insekten, aber sie ist nicht giftig.«
Sim war froh, dass sie und ihre Tante die Kurve gekriegt hatten. Sie nahm sich vor, sich zusammenzureißen, schließlich war sie kein Kind mehr. Außerdem war ihr klar, dass ihre Eltern schon bald nachfragen würden, wie sie sich führte. Sie sollten ruhig in dem Glauben bleiben, dass es eine gute Idee war, ihre missratene Tochter hierher ins Reservat zu schicken.
Es waren ja bloß ein paar Wochen, die würde sie schon irgendwie hinter sich bringen.
Die Hände im Nacken verschränkt, lag Lukas auf dem Rücken im hohen Gras und lauschte dem Summen der Insekten. Der würzige Geruch von Wacholder lag in der Luft und der rauchig süße Duft des wilden Salbeis, der um ihn herum in kleinen Inseln wuchs. Er mochte es, so auf der Erde zu liegen und mit dem ganzen Körper ihren pulsierenden Herzschlag zu spüren.
In solchen Augenblicken fühlte er sich eins mit der Welt und seine Gedanken bewegten sich frei in Zeit und Raum. Er konnte die Lieder der Erde hören. Von glühenden Sommern und großen Festen mit Hunderten Tänzern. Von kalten Wintern und den Geschichten der Alten, den Wintercounts. Von den gewaltigen Büffelherden im Frühling, die die Erde mit ihren Hufen zum Beben gebracht hatten und die Fleisch in Hülle und Fülle boten.
Aber das war lange vorbei, war nur noch in den Geschichten lebendig, die der alte Henry He Dog ihm erzählte. Das Leben der Lakota hatte sich grundlegend verändert in den vergangenen hundertdreißig Jahren. Ihre Kultur konnte nicht atmen, wurde von einer anderen erdrückt. Sie war abgeschnitten von ihrer Blutzufuhr, dem spirituellen Weg, dem alten Glauben, den heilenden Zeremonien. Wenn das nicht anders wurde, würde das Volk der Lakota vor die Hunde gehen.
Lukas wollte alles, was in seiner Macht stand, tun, um das zu verhindern. Die Alten sagten, dass jeder Mensch in seinem Leben eine gewisse Aufgabe zu erfüllen hat. Welcher Art diese Aufgabe war, konnte ein Lakota-Junge auf einer Hanbleceya, einer Visionssuche, herausfinden. Mit fünfzehn war Lukas auf den Berg gegangen, den Paha Mato. Er hatte den Medizinmann Henry He Dog gebeten, ihn auf die Hanbleceya vorzubereiten und ihn zu begleiten, wenn er vier Tage lang in einer Visionsgrube ausharrte, ohne Essen, ohne Trinken.
In seiner Vision, die er in der dritten Nacht erhielt, hatte er in der offenen Prärie gestanden, im Zentrum eines großen, steinernen Medizinrades, umgeben von Menschen aus seinem Leben. Sie hatten keine Gesichter, aber er erkannte ihre Stimmen
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