Julischatten
habe. Ich will ja auch nur, dass du vorsichtig bist, okay? Ich habe die Verantwortung für dich.«
Sim schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Babysitterin. Ich bin sechzehn und kein Kind mehr.«
»Du bist das Kind meines Bruders, Simona. Ich hab dich schon als Baby geliebt, als wärst du meine eigene Tochter.«
Darauf erwiderte Sim nichts, sie starrte auf ihren Teller und stocherte mit der Gabel im Gemüsereis. Mit derartigen Liebesbekundungen konnte sie nichts anfangen. Sim hielt das ganze »Hab-dich-lieb-Getue« für verlogen. Entscheidend war doch, dass jemand einem zuhörte und ausreden ließ, selbst wenn er das Gesagte lieber nicht wissen wollte. Aber das brachte kaum ein Erwachsener fertig, weil alle nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren. Auch ihre Tante war da (mit Sicherheit) keine Ausnahme.
»Was ich sagen wollte: Ich bin keine Jungfrau mehr, Tante Jo. Du brauchst dir also nicht die Mühe machen, mich aufzuklären.«
»Nun«, sagte Jo, »das hatte ich auch nicht vor.« Ihre hellen Augen musterte Sim aufmerksam. »Du hast also einen Freund. Er wird dich sicher vermissen. Wenn du ihn anrufen möchtest, dann…«
»Wir sind nicht mehr zusammen«, stieß Sim hervor. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals.
»Verstehe.«
Gar nichts verstehst du. Woher auch?
Sie und ihre Tante waren Fremde, hatten sich seit vier Jahren nicht gesehen. Niemand verstand sie. Nicht einmal ihre Eltern. Gleich nachdem sie aus dem Krankenhaus gekommen war, hatten sie Sim zu einem Psychologen geschleift, in der Hoffnung, dass der herausfinden würde, was mit ihr los war. Der Seelenklempner hatte sie nach ihren Gefühlen gefragt. Ob sie wütend wäre. Und ob Sim wütend war. Auf alles, auf jeden, auf sich selbst, auf die ganze Welt. Sie könnte platzen vor Wut.
»Hat er… ich meine, hat die Trennung von deinem Freund etwas damit zu tun, dass du trinkst?«
»Ich trinke nicht, okay? Und: Ja, wir haben Schluss gemacht und ich habe mich volllaufen lassen deswegen. Shit happens, okay? Aber ich bin darüber hinweg, so toll war der Typ nun auch wieder nicht.« Sim funkelte Jo angriffslustig an. »Die Zeiten, in denen man erst verlobt sein musste, um miteinander ins Bett zu gehen, sind lange vorbei, Tante Jo.«
Ihre Tante verzog keine Miene. »Und du glaubst, das hat sich noch nicht bis zu mir hier ins Reservat herumgesprochen?«
»Keine Ahnung.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht, wie es hier läuft.«
»Nein«, erwiderte Jo nachdenklich, »das weißt du tatsächlich nicht. Wie auch? Ich habe schließlich Jahre gebraucht, um es herauszufinden.«
Sim ließ sich gegen die Lehne zurückfallen. »Klär mich doch mal auf. Wie läuft es denn?«
Ihre Tante sah ihr jetzt direkt in die Augen, mit demselben gelbgrünen Blick, den Sim aus dem Spiegel kannte. Sie sagte: »Die meisten Kids im Reservat fangen an, Sex zu haben, wenn sie dreizehn oder vierzehn sind – oder noch eher. Durch Sex, Drogen oder Alkohol versuchen sie, der Trostlosigkeit ihres Lebens zu entkommen. Sie verwechseln Sex mit Zuneigung. Das Ergebnis ist, dass es haufenweise Siebzehnjährige gibt, die zwar keinen Schulabschluss haben, dafür aber schon zwei Kinder am Hals. Die Väter haben sich meistens verdrückt.« Jo holte tief Luft. »So läuft es hier, Simona. Wenig Zukunft, dafür jede Menge Hoffnungslosigkeit.«
Sim hob abwehrend die Hände. »Entschuldige, dass ich gefragt habe.«
Jo fuhr sich mit einer Papierserviette über den Mund. »Nein, ich finde es gut, dass du gefragt hast. Wenn du unbedingt mit einem von diesen Burschen Sex haben willst, dann sollst du wissen, was dich erwartet. Jungen wie Jimi und Lukas wissen ganz genau, was sie tun müssen, um ein Mädchen wie dich ins Bett zu kriegen.«
Ein Mädchen wie mich? Was für ein Mädchen war sie denn? Abrupt stand Sim auf, damit ihre Tante nicht sah, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. »Ich muss mir das nicht anhören, okay? Behandele mich nicht wie eine Idiotin! Du klingst ja schlimmer als meine Mutter.«
Mit wenigen schnellen Schritten war sie in ihrem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Sie ließ sich aufs Bett fallen. Ihre Kehle war eng, aber sie würde nicht anfangen zu weinen. Das war sowieso etwas, das sie sich abgewöhnen wollte.
Wie erwartet, klopfte es gleich darauf an der Tür.
»Ich habe das nicht so gemeint, Simona. Mach auf und lass uns miteinander reden.«
Reden? Was sollte dabei schon herauskommen? »Lass mich einfach in Ruhe, okay?
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