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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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herumzulaufen. Doch dieser schräge Mix, den sie inzwischen trug, war längst keine Verkleidung mehr. Das war sie. Sim Klinger. Niemand trug dasselbe – niemand war wie sie. In normalen Jeans und T-Shirts herumzulaufen, kam ihr überhaupt nicht in den Sinn.
    »Bitte, Simona«, sagte Jo. »Es macht mir keinen Spaß, dir vorzuschreiben, was du anziehen darfst und was nicht, aber es gibt ein paar grundsätzliche Regeln für Besucher des Reservats. Ohne BH, mit deinen ultrakurzen Röcken und Höschen, outest du dich für die einheimische Männerwelt als Freiwild. Ist es das, was du willst?«
    Freiwild? Was war das denn für ein paranoider Scheiß? Sollte sie etwa als Neutrum herumlaufen? Sim hatte das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein. War das wirklich ihre tolle Tante Jo, die sie immer so bewundert hatte?
    »Du solltest dich mal reden hören«, sagte sie leise.
    Jo seufzte. »Simona, du wirst sechs Wochen lang hier sein und ich kann nicht immer auf dich aufpassen. Das Reservat ist nicht…«
    ». . . Weisburg, schon klar«, konterte Sim. »Ich kann selbst auf mich aufpassen, okay? Und wenn du willst, dass ich mitkomme, dann musst du mich so nehmen, wie ich bin.« Sie musterte ihre Tante, spürte, wie es in ihr arbeitete.
    »Wie du meinst, Simona«, sagte Jo schließlich.
    Nach rund sechs Meilen auf der Asphaltstraße erreichten sie Manderson, eine der typischen Siedlungen im Reservat, die aus einheitlich aussehenden Holz- oder Backsteinhäusern bestand. Manderson hatte einen kleinen Lebensmittelladen, zwei Kirchen, eine College-Zweigstelle mit einem riesigen Parkplatz und eine große Schule mit mehreren Gebäuden.
    Jo fuhr langsam, fast Schritt. Kinder tobten mit ihren bunten Plastikrädern auf der Straße herum, verfolgt von einer kleinen Hundemeute, die zwar räudig aussah, aber harmlos zu sein schien. Zwei junge Frauen mit Babys auf dem Arm standen vor dem Laden, der sich Pinky’s Store nannte, und unterhielten sich.
    Ihre Tante lenkte den Pick-up auf die gegenüberliegende Straßenseite und hielt vor einem fensterlosen grauen Betongebäude mit Stahltür, auf dessen Blechdach das Sternenbanner gehisst war.
    »Was ist das denn?«, entfuhr es Sim, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, während der gesamten Fahrt schweigendes Desinteresse zu demonstrieren.
    »Die Post«, antwortete ihre Tante einsilbig. Sie griff nach einem Stapel Briefe und stieg aus. »Bin gleich wieder da.«
    Sim schob sich einen Kaugummi in den Mund und beobachtete ihre Tante, wie sie die schwere Tür aufschob und im Inneren des Zementblocks verschwand. Was war das für ein Ort, an dem die Post wie ein Bunker gebaut war, fensterlos und mit einer Stahltür gesichert?
    »Es wird sonst dauernd eingebrochen«, erklärte Jo, als Sim sie ein paar Minuten später danach fragte. »Aber nicht mal die Stahltür kann die Diebe abhalten – vor zwei Wochen erst ist diese Poststelle ausgeraubt worden. Die Postbeamtin liegt noch im Krankenhaus und die Stellvertreterin starrt jeden, der hereinkommt, mit angsterfüllten Augen an.«
    Sim kaute auf ihrem Kaugummi, sah aus dem Fenster und schwieg.
    Hinter Manderson änderte sich die Landschaft. Die Straße führte durch ein grünes Tal, das mit Büschen und Bäumen bewachsen war. Linker Hand erhoben sich aus den grasbewachsenen Hügeln, die das Tal begrenzten, knochenweiße Steilhänge, Bluffs genannt. Auf dem Kamm standen die Pinien, die dem Reservat seinen Namen gaben. Pine Ridge.
    Rechter Hand ragten schwarze Stämme ohne jeden Ast aus den Grashügeln. Hier musste es irgendwann einmal gebrannt haben, was bei dieser Trockenheit nicht weiter verwunderlich war.
    Die nächste Ortschaft, durch die sie fuhren, war Wounded Knee. Auf Sim wirkte der Ort noch um einiges trister als Manderson, weil schlichtweg die Bäume fehlten. Nur hier und da ein zerzauster Busch oder ein Cottonwood – eine Baumwollpappel. Dafür entdeckte sie einen nagelneuen Kinderspielplatz, eingezäunt von knapp drei Meter hohem Maschendrahtzaun. Die Spielgeräte aus buntem Plastik, Rutsche, Schaukel, Wippe und Klettergerüst, wirkten wie Zeugen aus einer anderen Welt inmitten der grauen Wirklichkeit.
    Als sie den Ort verließen, tauchte linker Hand auf einem Hügel eine braune Kirche auf. Sim betrachtete das Steintor mit dem Metallbogen darüber. Der Friedhof von Wounded Knee, schoss es ihr durch den Kopf, und sie reckte den Hals. Hier hatte vor mehr als hundert Jahren ein Massaker der US-Armee an Männern, Frauen und Kindern

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