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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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stattgefunden. Sim hatte während ihrer Indianerphase darüber gelesen und jetzt erinnerte sie sich daran, wie diese Geschichte ihr damals schlaflose Nächte bereitet hatte. Das Bild des erfrorenen Häuptlings Bigfoot im Schnee. Die Verwundeten, denen niemand half. Und besonders die Geschichte von Lost Bird, einem kleinen Mädchen, das vier Tage nach dem Massaker lebend gefunden worden war, geschützt vor der eisigen Kälte vom toten Körper ihrer Mutter.
    »Können wir anhalten«, bat Sim ihre Tante, nachdem sie ihren Stolz endgültig über Bord geworfen hatte. »Ich würde mir das gerne ansehen.«
    Jo hielt an einer Y-Kreuzung und blinkte in Richtung Pine Ridge.
    »Ich gehe mit dir auf den Hügel, wenn du bereit bist, den Toten Respekt zu zollen, indem du dich respektvoll kleidest«, erwiderte ihre Tante und bog um die Kurve.
    Eins zu null für Tante Jo, dachte Sim und zog es vor, den Rest der Fahrt zu schweigen.
    Als die ersten Häuser von Pine Ridge, dem Hauptort des Reservats, auftauchten, begriff Sim endgültig, dass sie nicht mehr ganz auf dem Laufenden war, was die Helden ihrer Kindheit betraf. Heruntergekommene Wohntrailer standen zwischen verwahrlost wirkenden Häusern, die von Müll und allerlei abenteuerlichem Krempel umstellt waren. Dazwischen entdeckte Sim ab und zu ein Haus oder einen Vorgarten, mit dem sich jemand Mühe zu geben schien.
    Jo parkte vor dem Sioux-Nation- Supermarkt und bat ihre Nichte, einen Einkaufswagen zu holen. Spätestens als sie ausstieg, wurde Sim klar, dass ihre Tante ausnahmsweise recht gehabt hatte und die Shorts keine gute Idee waren. Zwei räudige Hunde kamen angerannt und schnüffelten mit ihren feuchten Nasen an ihren nackten Beinen. Der kleinere von beiden hatte ein verletztes, von Fliegen umschwirrtes Auge. Sim verzog das Gesicht und wandte den Blick ab.
    Auf der Ladefläche eines geparkten Pick-ups saßen drei halbwüchsige Jungen mit Achselshirts und blauen Halstüchern um die Stirn. Sie lachten über sie und riefen etwas, das Sim nicht verstand. Zwei offensichtlich betrunkene Männer standen bei den Einkaufswagen und stritten sich. Als sie Sim erblickten, hielten sie inne und grinsten zahnlos, während sie mit ihren Blicken Sims Beine verschlangen.
    Tapfer zog Sim einen Einkaufswagen aus der Reihe und schob ihn zum Auto, wo ihre Tante die leeren Wasserkanister einlud. Auf dem Weg in den Supermarkt holte Jo einen zweiten Wagen. In der klimatisierten Halle war es kühl und Sim bekam eine Gänsehaut. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, sonst würden sie anfangen zu klappern.
    Jo zeigte ihr, wo sie die mitgebrachten Trinkwasserkanister auffüllen konnte. Es war ein blödes Gefühl, die Blicke der Leute im Rücken zu spüren wie Pfeile – aber wenn sie sich umdrehte, um zurückzuschießen, waren alle mit irgendetwas beschäftigt. Niemand starrte sie offen an und mit dieser verstohlenen Art konnte Sim nur schwer umgehen. Am liebsten hätte sie laut gerufen: »He Leute, was glotzt ihr denn so? Noch nie nackte Beine gesehen?« Aber dann wäre ihre Tante mit Sicherheit stinksauer geworden und deshalb war es keine gute Idee.
    Als sie den letzten Kanister abgefüllt hatte, kam Jo mit einem vollgeladenen Einkaufskorb zurück. Auf dem Weg zur Kasse entdeckte Sim im Regal ein paar weiße Segeltuchturnschuhe für fünfzehn Dollar und schlug zu.
    Während sie draußen den Pick-up beluden, trippelte eine ältere Frau auf sie zu und fragte schüchtern, ob sie ihr eine Kette abkaufen würden, die sie am Vormittag erst gemacht hatte. Die zehn Dollar bräuchte sie dringend für Benzingeld, um ihre Mutter im Krankenhaus zu besuchen.
    Es war eine Kette aus winzigen rosafarbenen Perlen mit einer weißen Schildkröte als Anhänger. Sim roch den Alkohol, den die Frau auszuatmen und durch alle Poren zu schwitzen schien. Mit ihren blutunterlaufenen Augen blickte sie an Jo vorbei, während sie redete, und Sim begriff, dass die Frau gar nicht so alt war, wie sie erst geglaubt hatte. Unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Sie konnte dreißig, aber auch schon fünfzig sein.
    Ohne lange nachzudenken, griff Sim in ihre Hosentasche und zog einen Zehndollarschein hervor. Die Frau schnappte danach, drückte ihr die Kette in die Hand und verschwand erstaunlich flink um die Ecke des Supermarktes.
    »Na, eine original Lakota-Handarbeit Made in Taiwan erstanden?« Jo schlug die Heckklappe zu und stieg in die Fahrerkabine. Sim hängte sich die Kette mit der Schildkröte um den Hals und kletterte neben ihre

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