Julischatten
Ich will nicht reden.« Alles, was ihr in diesem Moment helfen würde, war ein kräftiger Schluck aus einer Tequilaflasche.
»Okay«, hörte sie Jo leise sagen. Dann nichts mehr.
Okay? Einfach so? Das war neu für Sim. Ihre Eltern akzeptierten nie, wenn sie sich in ihrem Zimmer einschloss und nicht reden wollte. Jedenfalls ihre Mutter nicht. Jedes Mal klopfte sie unter endlosem Gemeckere so lange gegen die Tür, bis Sim vor Wut fast explodierte. Oder ihre Mutter verlegte sich auf Drohungen, was noch lächerlicher war. Jede Auseinandersetzung mit ihren Eltern hatte in einem bescheuerten Kräftemessen geendet. Ihre Eltern siegten meistens. Aber Sim wusste, dass der Sieg oft schal schmeckte, denn es war ganz leicht, den Finger auf die Wunde zu legen und die beiden moralisch unter Druck zu setzen.
Geschirr klapperte in der Spüle, Sim hörte, wie ihre Tante telefonierte und sich später die Nachrichten anschaute. Dann wurde es still. Jo war schlafen gegangen.
Sim entriegelte die Tür und schlich sich ins Bad, wo sie auf die Toilette ging und Zähne putzte. Ihre Zähne waren schön weiß, aber die oberen standen leicht schief – eine Folge ihrer Rebellion gegen die Eltern (mit der sie was verfolgte?). Sie hatte ihre Zahnspange nie getragen, deshalb zahlte die Krankenkasse die anteiligen Kosten für den Kieferorthopäden nicht. Sim hatte ihre schiefen Zähne behalten, während Merle-Perle, die ihre Spange immer brav getragen hatte, ein Gebiss wie ein Filmstar hatte.
Manchmal gingen die Dinge eben auch nach hinten los.
Sie stieg zurück ins Bett und zog fröstelnd das Laken über ihren Körper. Vermutlich hatte sie einen leichten Sonnenstich und sollte in Zukunft doch lieber die hässliche Baseballkappe aufsetzen.
Sim schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein.
6. Kapitel
Ein Strahl der Morgensonne, der durch den Spalt im Vorhang fiel, kitzelte Sim an der Nasenwurzel und weckte sie. In der Küche lief das Radio und sie hörte ihre Tante herumhantieren. Sim fühlte sich immer noch komisch und ihr war ein bisschen übel. Am liebsten wäre sie im Bett liegen geblieben, aber zu ihrem Leidwesen war da auch noch das vertraut verhasste Ziehen im Unterleib. Sie bekam ihre Tage.
»Du hast einen Sonnenstich«, sagte Jo, als Sim beim Frühstück nichts essen wollte und sich mit beiden Händen den Kopf hielt. »Du musst etwas auf den Kopf setzen, wenn du draußen bist. Ich habe dir doch die Baseballmütze gegeben. Und ein T-Shirt ist besser als die ärmellosen Dinger, die du immer trägst.«
Du musst… Ich habe dir doch… ist besser als… Sim schaltete auf Durchzug.
Jo verschwand in ihrem Zimmer und kam mit einem kurzärmligen weißen T-Shirt wieder heraus, auf dem bunte Pferde abgedruckt waren. Es war nagelneu und die stilisierten Gäule fand Sim gar nicht so übel. Nur dass sie die sackähnlichen amerikanischen T-Shirts mit dem engen Halsausschnitt nicht ausstehen konnte.
Des lieben Friedens willen nahm sie es trotzdem und murmelte ein Dankeschön.
»Heute betreut Almona den Laden«, eröffnete Jo ihr. »Ich muss nach Pine Ridge einkaufen. Am besten, du kommst mit. Bei der Gelegenheit kann ich dir gleich ein bisschen was vom Reservat zeigen.«
Sim hatte wenig Lust auf eine Autofahrt mit ihrer Tante, aber sie protestierte nicht. Herumfahren und einkaufen, war immer noch besser als alles andere, was sonst auf sie wartete, wenn sie hierblieb.
»Sag mir einfach, wann es losgeht.«
Almona, eine rundliche Lakota um die vierzig, mit zurückgebundenem Haar, freundlichen Gesichtszügen und einem umwerfend herzlichen Lachen, kam halb zehn. Sim mochte die Indianerin sofort. Jo stellte sie einander kurz vor und gab Almona noch einige Anweisungen, dann nahm sie Sim beiseite.
»Was du hier trägst, Simona, ist mir egal. Aber wir fahren nach Pine Ridge und dafür sind deine Shorts einfach zu kurz und das Top ist zu weit ausgeschnitten.«
Sim blickte an sich herunter. Sie hatte ihr apricotfarbenes Top an, das mit dem großen bunten Schmetterling darauf, und trug ihre grünen Shorts von gestern, die mit den aufgenähten Jeansflicken. Die Shorts waren kurz, normal kurz. Shorts eben.
»Ich habe nichts anderes«, entgegnete sie.
»Du hast nichts anderes als diese kurzen Höschen und Röckchen?«, fragte Jo entgeistert.
»Es ist Sommer.«
»Läufst du damit auch in Weisburg herum?«
Sim zuckte mit den Achseln. »Ja, klar. Wieso nicht?«
Am Anfang hatte es ihr einiges an Mut abverlangt, in den verrückten Klamotten
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