Julischatten
ihren Durst löschen, sondern auch ihre Zweifel und die Unsicherheit fortspülen. Aber ein Bier war hier garantiert nicht zu bekommen und wie es aussah auch nichts anderes, das Abhilfe versprach. Das große Schild am Eingang zum Wettkampfgelände war nicht zu übersehen gewesen: No drugs, no guns, no alcohol. Sie würde endlose Stunden auf dem Trockenen sitzen.
Jimi und Lukas diskutierten angeregt mit den beiden Mädchen über die bevorstehenden Rennen und Sim hatte zumindest so viel mitbekommen, dass alle vier mit ihren Pferden an den Wettkämpfen teilnehmen würden. Auch Lukas. Zwar war Sim neugierig, wie das funktionieren sollte, gleichzeitig wurde ihr jedoch mit einem gewissen Unbehagen klar, dass sie die meiste Zeit würde alleine verbringen müssen.
Ein Lautsprecher knackte und eine tiefe Männerstimme (laut Lukas war es Yellowhawk, der Veranstalter der Rennen) kündigte an, dass die Eröffnung der Wettkämpfe in wenigen Minuten beginnen würde. Marola und Cammie gingen zu ihren Pferden, die auf der anderen Seite des unbefestigten Weges an einem Hang grasten. Jimi holte sich eine Dose Pepsi aus einer blauen Eisbox und ließ sich in einen der beiden Klappstühle fallen, die mit bester Sicht auf den Rennplatz im Schatten der Erle standen.
»Bedien dich«, sagte er zu Sim.
Sie öffnete den Deckel der Box und zog sich eine Wasserflasche aus den Eiswürfeln.
»Bringst du mir bitte ein Wasser mit«, bat Lukas.
Sim zog eine weitere Wasserflasche heraus, ging zu ihm und drückte sie gegen seine Brust, wie sie es von Jimi abgeguckt hatte. Lukas klopfte mit der Hand gegen die Lehne des zweiten Stuhles.
»Setz dich.«
»Ich kann stehen«, sagte Sim, obwohl sie sich vor Hitze und Anspannung kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Setz du dich, ist ja dein Stuhl.«
»Ich bin nicht behindert, okay?«, sagte Lukas. »Ich kann nur nicht sehen.«
»So habe ich das nicht gemeint«, stotterte sie.
Jimi verdrehte die Augen. »Nun setz dich schon hin, verdammt noch mal, sonst ist er gekränkt. Luke ist ein Gentleman, noch nicht bemerkt?«
Sim ließ sich in den Stuhl fallen und Lukas hockte sich ins Gras.
Vorne, am Start, wurde eine Trommel angeschlagen und jemand begann zu singen. Es war ein durchdringender Falsettgesang, der Sim einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Das dumpfe Dum, dum, dum der Trommel vibrierte bis in ihr Herz.
Ein Lakota-Ältester eröffnete das Pferderennen mit einer Rede. Er erinnerte die auf dem Gelände Versammelten an die Schlacht am Little Bighorn und an den tapferen Kriegshäuptling Crazy Horse, der mit seinen Männern und den verbündeten Kriegern vom Volk der Cheyenne und Arapaho General Custer und seiner Siebten Kavallerie vor hundertfünfunddreißig Jahren den Todesstoß versetzt hatte. Sim hatte sich von Michael und ihrer Tante am gestrigen Abend die Zusammenhänge erklären lassen und sie hatten lange über das Dilemma gesprochen, in dem das Volk der Lakota auch heute noch steckte. Michael hatte ihr ein Buch geliehen, das ein Freund von ihm geschrieben hatte – Kent Nerburn. Das Buch hieß Neither Wolf nor Dog . Sie hatte angefangen, darin zu lesen, war aber über die ersten vier Seiten nicht hinausgekommen, weil sie so müde gewesen war.
»Es war unser letzter Sieg«, fuhr der alte Mann fort, »danach folgte eine Niederlage nach der anderen. Sie haben unser Land genommen und uns in Reservate gesteckt. Sie haben unsere Sprache genommen und unsere Art zu leben. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir nicht mehr bereit sind, Niederlagen einzustecken.« Seine Stimme bekam einen kämpferischen Tonfall. »Wir müssen unseren Kindern wieder eine Zukunft geben.«
Während die Leute zustimmend klatschten, tauchte wie aus dem Nichts ein alter Büffelbulle zwischen den Büschen auf der gegenüberliegenden Seite der Rennarena auf. Ein erstaunter Aufschrei ging durch die Menge. Yellowhawk (der Besitzer des Landes und des Bullen) trat ans Mikrofon und warnte die Zuschauer, dem Büffel nicht im Weg zu stehen. »Er ist alt und meint, er wäre hier der Chef. Macht einfach Platz, wenn er kommt.«
Erstaunlich schnell pflügte sich der braune Koloss einen Weg durchs Gras. Er brüllte ärgerlich und die Leute schrien auf. Sim saß schon in den Startlöchern. Falls der Bulle in ihre Richtung schwenken sollte, würde sie sich auf die Ladefläche eines Pickup-Trucks retten, der hinter dem Stamm der Erle parkte.
Damit er besser sehen konnte, stand Jimi auf und kommentierte das Geschehen
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