Julischatten

Handrücken über die Lippen, »du hast nichts falsch gemacht. Du wolltest nur helfen und ich… ich wollte dir beweisen, dass ich auch ohne deine Hilfe klarkomme.«
    »Aber warum?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Das ist nicht so leicht zu erklären. Vermutlich hat es etwas mit Selbstwertgefühl zu tun. Wenn ich gewollt hätte, dass du mir das Wasser holst, hätte ich es dir gesagt, okay? Ich bin blind, aber kein Invalide.«
    »Verstehe.« Sim hoffte, dass sie das irgendwann tatsächlich tun würde.
    »Hey«, sagte er, »keine Sorge, aus uns wird schon noch ein gutes Team.«
    Sim schluckte. Was sollte sie darauf auch sagen? »Wer hat eigentlich gewonnen?«, fragte sie, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.
    »Jimi. Black Arrow ist schnell.«
    Ein Mädchen in ihrem Alter kam vorbei und klopfte Lukas auf die Schulter. »Du warst gut, Luke.« Sie hatte einen üppigen Vorbau und schielte leicht auf dem linken Auge.
    Ein erkennendes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Hi, Sally.« Er ließ sich von dem Mädchen umarmen und sagte: »Ghost ist gut in Form.«
    Lukas stellte sie einander vor. Schiele-Sally schien nicht sonderlich erbaut über Sims Anwesenheit zu sein. Mit schiefem Blick nahm sie ihre vermeintliche Konkurrenz in Augenschein. Sie flirtete eine Weile heftig mit Lukas, das war offensichtlich. Wusste er, dass Sally ganz und gar keine Schönheit war?
    Sally ging schließlich, ohne Sim eines zweiten Blickes gewürdigt zu haben.
    Über die Lautsprecher rief Yellowhawk zum nächsten Rennen auf, das sich Women-Half-Mile-Saddle- Rennen nannte. Sim blieb neben Lukas sitzen – aus Höflichkeit. Wenn sich niemand vor sie stellte, würde sie auch von ihrem Stuhl aus einen guten Blick haben.
    Unter den Reiterinnen, die in halsbrecherischem Tempo an ihnen vorüberjagten, erkannte Sim die dicke Cammie und Marola. Die Indianerprinzessin ritt wie der Teufel, ihre Haare flogen, es war eine Schau. So reiten zu können, musste ein tolles Gefühl sein. Mit Sicherheit lagen Marola die Jungen reihenweise zu Füßen.
    Als das Trommeln der Pferdehufe verklungen war, fragte Lukas: »Hast du Marola gesehen?«
    Oh ja. »Sie war die Erste, hatte mindestens fünf Meter Vorsprung.«
    »Marola ist eine klasse Reiterin. Ein bisschen wild, aber sie heimst immer alle Preise ein bei Pferderennen. Ich wünschte, ich könnte sie sehen.«
    Sim hörte die Bewunderung in Lukas’ Stimme. Ihm war offenbar bewusst, dass Marola schön war. Klar, Jimi hielt bestimmt nicht hinter dem Berg mit dem Aussehen der Mädchen. Was er Lukas über sie erzählt hatte, wollte sie lieber nicht wissen.
    »Die Mädchen«, fragte sie, »Marola und Cammie, seid ihr zusammen?«
    »Manchmal«, antwortete Lukas und leerte mit einem tiefen Zug seine Wasserflasche.
    »Nein«, meinte Sim verlegen, weil sie merkte, dass sie den falschen englischen Ausdruck benutzt hatte. »So meine ich das nicht. Ich meine, seid ihr befreundet?«
    »Ja«, sagte er, »seit der Grundschule.«
    Sie seufzte und kramte in ihrem Kopf nach der richtigen Vokabel. Verflixt, warum war es nur so schwer, sich in der fremden Sprache unmissverständlich auszudrücken? Doch als Sim Lukas’ Gesicht sah, wurde ihr bewusst, dass er sie aufzog.
    »Wir sind nur Freunde«, sagte er.
    »Hat Jimi eine Freundin?«
    »Im Augenblick nicht.«
    »Stimmt es, dass er der totale Mädchenschwarm ist?«
    »Wer sagt das? Deine Tante?« Er schlug mit der leeren Wasserflasche in die offene Handfläche seiner Linken.
    Keine gute Frage, Sim.
    In diesem Moment wurde über den Lautsprecher zum nächsten Wettkampf aufgerufen, der sich das Rettet-den-gefallenen-Krieger- Rennen nannte und laut Yellowhawk an die Zeiten der Indianerkriege erinnern sollte, als die Verwundeten während des Kampfes vom Schlachtfeld geholt werden mussten.
    Lukas stand auf und pfiff leise nach Ghost. »Bis später«, sagte er zu Sim, als er auf dem Pferderücken saß.
    Der Startschuss für das erste Reiterpaar fiel kurz darauf und Sim beobachtete neugierig, was passieren würde. Die beiden Wettkämpfer jagten, angefeuert von den Zuschauern, auf ihren Pferden an ihr vorbei. An einem mit einem Fahnenstab markierten Punkt ließ sich einer von beiden vom Pferd gleiten, der andere nahm ihn auf und das Pferd des Retters trug beide zurück zum Ausgangspunkt.
    Als Jimis und Lukas’ Name fiel, reckte Sim den Hals. Wer von beiden würde der gefallene Krieger sein?
    Mit einem Vorsprung von ein paar Sekunden ritt Lukas voran. An der Markierung stoppte Ghost