Julischatten
für Lukas. Der Bulle schüttelte drohend seinen mächtigen Schädel und rannte schließlich direkt auf ein paar Pferde zu, die angebunden am Startzaun standen. Ein ängstlicher Aufschrei ging durch die Menge und Sim sprang nun ebenfalls auf, um den Weg des Büffels besser verfolgen zu können. Die angebundenen Pferde wieherten ängstlich, sie schlugen mit den Hinterbeinen aus und auf einmal war es ganz still, als würden alle den Atem anhalten.
»Was ist passiert?«, fragte Lukas verunsichert.
Jimi kommentierte wie ein Sportreporter. Der Bulle lief – unbeeindruckt von ihren durch die Luft fliegenden Hufen – an den Pferden vorbei, nahm das rote Plakat mit der Aufschrift »Remember Greasy Grass« auf die Hörner und trollte sich.
»Jeeez, das war knapp«, bemerkte Yellowhawk trocken durch den Lautsprecher. Kollektives Ausatmen, erleichtertes Lachen. Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, wurde das Auftauchen des alten Büffelbullen auf dem Wettkampfareal allseits als gutes Omen gewertet.
»In solchen Momenten bedaure ich, dass ich nichts sehen kann«, gab Lukas zu. Sim antwortete nicht. Es hatte ihr schlichtweg die Sprache verschlagen.
Nachdem Yellowhawk den Start des ersten Rennens angekündigt hatte, das sich Over-&-Back- Rennen nannte, schwangen sich auch Jimi und Lukas auf die Rücken ihrer Pferde und gingen mit ein paar anderen jungen Männern an den Start. Das Rennen ging über eine Distanz von einer Meile – eine halbe Meile hin, eine halbe zurück.
Als der Startschuss fiel, stand Sim mit gezückter Kamera am Rand und schoss ein Foto nach dem anderen. Mindestens fünfzehn Reiter in Jeans und T-Shirts jagten an ihr vorbei, aber sie erkannte Jimi und Lukas an ihren auffallenden Pferden. Beide ritten ohne Sattel, wie die meisten anderen auch. Mit lauten Rufen, Gejohle und Trillern, die Sim an Kriegsgeschrei aus Wildwestfilmen erinnerten, feuerten die Lakota die Reiter an. Von einer unerwarteten Erregung gepackt, fieberte Sim mit. Als die Reiter zurückkehrten, hob sie erneut die Kamera und versuchte, Jimi und Lukas im Bild einzufangen. Black Arrow hatte die Führung übernommen, dicht gefolgt von Ghost Face, aber wer als Erster ins Ziel ging, das konnte sie von ihrem Platz aus nicht erkennen.
Die Zuschauer pfiffen anerkennend und klatschten und dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, ließen sie sich in ihre Klappstühle fallen oder setzten sich auf ihre bunten Patchworkdecken und schwatzten.
Sim fühlte sich unwohl so allein und freute sich, als Ghost seinen blinden Reiter zurück zur Erle brachte. Aus unerfindlichen Gründen schien das Pferd Lukas’ Ziel stets zu kennen. Doch dann bemerkte Sim den Leinensack, der an einem Ast des Baumes hing und der, wie sich herausstellte, Hafer enthielt. Nachdem Lukas dem Schecken eine Handvoll Körner zur Belohnung gegeben hatte, rief er Sims Namen.
»Ich bin hier«, meldete sie sich.
»Die Kühlbox«, fragte er, »wo steht sie?«
Sim sprang auf und lief zur Kühlbox. Sie öffnete den Deckel und fragte: »Ein Wasser?«
Lukas antwortete nicht gleich. »Du musst mich nicht bedienen«, sagte er schließlich. »Sag mir einfach, wo der Cooler steht, okay?«
Der verdrießliche Unterton in seiner Stimme war Sim nicht entgangen, deshalb klappte sie den Deckel leise wieder zu und richtete sich auf. Von Lukas bis zur Kühlbox waren es kaum drei Schritte. »Hmm…« Sie kratzte sich am Hinterkopf.
»Okay, es ist überhaupt nicht schwer.« Nun klang er nachsichtig. »Entweder ›rechts von dir‹ oder ›links von dir‹ oder ›auf drei Uhr‹, je nachdem.«
Sim betrachtete Lukas und die Kühlbox. »Genau vor dir«, sagte sie. »Drei Schritte.«
»Auf zwölf also.« Er lief die drei Schritte, bis sein Fuß gegen den Cooler stieß. Er ging in die Knie, öffnete den Deckel und fuhr mit der Hand ins Eis, um eine Wasserflasche herauszuziehen. Als er sich wieder aufrichtete, sah Sim ein Lächeln auf seinen Lippen. »Gut gemacht«, sagte er. »Zur Belohnung darfst du mich jetzt zu den Stühlen führen.«
Er streckte die Hand aus, doch Sim ergriff sie nicht. Stattdessen nahm sie ihn am Arm und führte ihn zu den Stühlen.
»Rechts von dir.«
Lukas tastete nach dem Stuhl und setzte sich. Er schraubte den Verschluss von seiner Wasserflasche und trank. Sim ließ sich im zweiten Stuhl nieder.
»Sorry«, sagte sie, »ich wollte dich nicht…« Verdammt – was wollte sie eigentlich nicht? Ihn wie einen Blinden behandeln?
»Kein Problem.« Lukas wischte sich mit dem
Weitere Kostenlose Bücher