Julischatten
ging. Mit geschlossenen Augen lag es auf der blanken Erde. Das war der Moment, in dem Sim begriff, dass niemand mehr etwas für das kleine Wesen tun konnte, am allerwenigsten sie. Das Fohlen würde nicht mehr aufstehen, es würde auch nicht trinken, es würde sterben – noch heute. Diese Gewissheit fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube.
Sie ging neben dem Fohlen auf die Knie und streichelte es, hoffte, dass es schnell vorbei sein möge. Tränen rannen über ihre Wangen und ihr Körper wurde von wilden Schluchzern geschüttelt. Sie weinte um das Fohlen, weinte, weil sie sich so machtlos fühlte. Nach wie vor war sie überzeugt davon, dass sie das Fohlen hätte mit der Flasche aufziehen können. Alle Wut und ihr ganzer Schmerz richteten sich nun gegen ihre Tante. Sim weinte, weil sie mit allem Möglichen gerechnet hatte, als sie ins Reservat gekommen war, nur nicht damit, dem Tod zu begegnen.
Ebony kam herangetrottet und stupste Sim sanft gegen die Schulter, als wollte sie ihr sagen: »Sei nicht traurig, alles hat seine Richtigkeit.« Aber Sim war auch wütend auf Ebony, weil die Stute nicht um ihr Kleines gekämpft hatte. Weil sie es gebissen und getreten hatte, statt es trinken zu lassen, was ihre Aufgabe gewesen wäre.
»Rabenmutter«, sagte sie. »Geh weg.«
Sim wünschte, sie könnte singen, so wie Lukas, aber das konnte sie nicht. Deshalb sprach sie leise mit dem Fohlen. »Bald ist alles gut, du bist nicht allein. Ich bin bei dir, du bist nicht allein.« Immer wieder sagte sie diese Worte, wie ein Mantra.
Jedes Mal, wenn sie die Augen öffnete, hoffte sie, dass es vorbei war. Doch das kleine Herz wollte nicht aufgeben, es schlug weiter. Immer schwächer zwar, aber noch atmete das Fohlen, kämpfte einen aussichtslosen Kampf.
Als jemand seine Hand auf ihre Schulter legte, dachte Sim, es wäre ihre Tante. Sie holte tief Luft und hob den Kopf, bereit, ihre Wut und ihren Schmerz an Jo auszulassen, als sie durch den Tränenschleier sah, dass es Lukas war. Ihre Schultern bebten. Er ging neben ihr auf die Knie, legte seine Hand auf den Hals des Fohlens und es machte einen letzten tiefen Atemzug.
»Es ist vorbei«, sagte er.
Sim vergrub den Kopf an seiner Brust und er hielt sie. Als ihr seine körperliche Nähe bewusst wurde, machte sie sich rasch von ihm los und stand auf. Ihre Beine waren eingeschlafen und kribbelten, als würden Ameisen durch die Adern rennen. Außerdem schmerzten ihre Muskeln, die Knochen und der Kopf. Aber dieser Schmerz war dumpf.
Lukas erhob sich ebenfalls und rief nach Ebony. Tatsächlich kam die Stute zu ihm getrottet und stupste ihn gegen die Brust. Er liebkoste ihren Hals, streichelte ihre Nüstern und sprach leise tröstende Worte.
»Sie musst du nicht trösten«, bemerkte Sim und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Ebony hat ihr Kleines nicht trinken lassen, sie hat es gezwickt und getreten. Sie ist schuld, dass es jämmerlich verdurstet ist.«
»Niemand hat Schuld«, sagte Lukas. »Sie ist noch ein Teenager, die anderen haben sie als Mutter nicht akzeptiert.«
»Woher weißt du das?«, fragte Sim trotzig. Und wenig später: »Was machst du überhaupt hier?«
Sie war heilfroh, dass Lukas da war, aber das konnte sie nicht zugeben, nicht in diesem Moment. Sie brauchte jemanden, an dem sie ihren Schmerz auslassen konnte, und er kam ihr gerade recht.
»Deine Tante hat Jimi angerufen und ihn gebeten zu kommen, aber er hatte zu tun. Ich habe mich gleich auf den Weg gemacht, als er mir von ihrem Anruf erzählt hat.«
Warum hatte Tante Jo ihr verschweigen, dass sie Jimi um Hilfe gebeten hatte? »Wann hat sie ihn denn angerufen?«
Lukas hob die Schultern. »Ich glaube, Mittag herum.«
Mittag, dachte Sim. Das war vor Stunden. Da hatte das Fohlen noch tapfer auf seinen vier Beinen gestanden. Vielleicht hätte es eine Chance gehabt, wenn Jimi gleich gekommen wäre. Aber er war nicht gekommen.
»Und warum konnte er nicht?«
Wieder ein Achselzucken. »Na, er hatte Dinge zu erledigen.«
»Was denn für Dinge?«
»Jobs. Sachen reparieren. Was er für deine Tante auch macht.«
»Die Sachen wären ihm doch nicht weggelaufen. Hier ging es um ein Leben.« Auch wenn es nur ein winziges Fohlenleben war. »Ich hätte es mit der Flasche aufziehen können.«
»Hey«, Lukas kam auf sie zu und streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich einen Schritt zurück. Er ließ seine Hand wieder sinken. »So, wie die Dinge standen, hatte das Fohlen keine Chance. Es war einfach
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