Julischatten
ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände. Niemand hat Schuld. Deine Tante nicht, Jimi nicht und Ebony auch nicht. Sie trauert um ihr Baby. Sie versteht es nicht. Sie ist ein Pferd, Sim, kein Mensch.«
»Es hat so tapfer gekämpft.« Ein rauer Laut kam aus ihrer Kehle.
Lukas machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie fest in seine Arme. Sim zögerte einen Moment, aber dann ließ sie es geschehen.
Während ihre Tante mit dem gerade erst aus Kyle zurückgekehrten Michael das Fohlen zu einem hundert Meter entfernten, mit Sträuchern bewachsenen Graben brachte, saßen Sim und Lukas auf den Holzstufen vor dem Haus. Lukas kraulte Juniper hinter den Ohren und las ihr die Zecken aus dem Fell, von denen einige so groß waren wie Heidelbeeren. Er ließ sie auf die Bretter fallen und die Hündin fraß sie. Igitt.
»Es ist der Lauf der Dinge, Sim«, sagte Lukas. »Ich weiß nicht, wie das bei euch in Deutschland ist, aber wir Lakota überlegen uns sehr gut, ob wir in die Natur eingreifen oder nicht. Wir Menschen glauben nur, dass wir klüger sind, aber meistens stimmt das nicht. Ebony wird ein neues Fohlen haben und dann wird sie wissen, was zu tun ist.«
»Ja«, sagte sie, »ich hab’s begriffen.« Das klang mürrischer als beabsichtigt, aber Lukas redete mit ihr, als wäre sie ein kleines Mädchen, das nicht über den Verlust seines geliebten Pferdes hinwegkam. Dabei hatte sie noch vor ein paar Tagen nicht einmal etwas für Pferde übrig gehabt.
Was war aus der coolen Sim geworden? Ein tränenverschmiertes Etwas, das einen Schuldigen brauchte, weil es ihr schlecht ging und weil ihr das einzige Heilmittel für solche Fälle verwehrt blieb. Zu Hause hätte sie sich jetzt mit Tequila volllaufen lassen, um den Schmerz zu betäuben. Aber hier hatte sie keine Chance, an Alkohol zu kommen, nicht mal an ein simples Bier, obwohl die Budweiserdosen angeblich überall im Reservat kursierten. Sim saß auf dem Trockenen und musste ihre beschissenen Gedanken und Gefühle ertragen.
Diesmal blieb Lukas zum Abendessen. Michael hatte eine Gemüsepfanne mit Büffelfleisch zubereitet, dazu gab es frischen Salat aus Jos Garten. Lukas aß mit gutem Appetit und Sim faszinierte es, wie hervorragend er beim Essen zurechtkam. Sie hatte noch nie einen Blinden bei der Nahrungsaufnahme beobachtet, einfach weil sie es noch nie mit einem zu tun gehabt hatte. Nicht ein einziges Mal führte Lukas eine leere Gabel zum Mund.
Sie selbst bekam kaum einen Bissen herunter, obwohl ihr Magen knurrte. Lustlos schob sie ihr Essen auf dem Teller hin und her. Auch wenn Sim ihrer Tante schon halb verziehen hatte, die Stimmung am Tisch war angespannt. Bis Michael das Gespräch auf Henry He Dog lenkte und begann, Lukas über die Möglichkeiten und die Akzeptanz alter Heilzeremonien unter den Lakota im Reservat auszufragen.
Sim hob den Kopf und sah Lukas an. Seine Sonnenbrille lag neben dem Teller auf dem Tisch und seine blicklosen Augen suchten Michaels Richtung. Was würde er antworten?
»Wirkliche Heilung«, sagte er, »ich meine, im Sinne von Heil werden, ist nur dann möglich, wenn wir Lakota es schaffen, wieder Eigenverantwortung für unser Leben zu übernehmen, und nicht mehr darauf hoffen, dass andere das in die Hand nehmen.« Er lehnte sich zurück. »Jeden Sommer fallen die Hilfsorganisationen in unser Reservat ein wie Heuschrecken, aber ihre Hilfe ist nur bis zu einem bestimmten Punkt wirklich sinnvoll.«
Michael nickte. »Man kann ein Pferd zum Wasser führen, aber saufen muss es schon selbst«, sagte er.
»Stimmt.« Lukas lächelte. »Wir müssen uns auf die Stärken unserer eigenen Kultur besinnen. Dazu gehört auch die Arbeit der Medizinmänner.«
»Aber du bist ein kluger Bursche, Luke«, wandte Michael ein. »Du könntest auf eine Uni gehen und studieren.«
Ein milder Ausdruck machte sich auf Lukas Gesicht breit. »Ich will bei meinen Leuten bleiben. Sie brauchen mich. Alles, was ich mir wünsche, ist hier.«
»Du könntest Anwalt werden und deinen Leuten auf diese Weise helfen. Mit der Magie von Paragrafen zum Beispiel.«
»Dafür wird es andere geben«, erwiderte Lukas, als hätte er das alles bereits gründlich überdacht. »Ich will nicht erst auf den Plan treten, wenn jemand im Gefängnis sitzt, weil er seine Frau verprügelt oder einen Nebenbuhler erschossen hat. Ich will dafür sorgen, dass die Leute gar nicht erst ins Gefängnis kommen.«
Das klingt nach Sozialarbeiter und nicht nach Medizinmann, dachte Sim.
»So ein
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