Julischatten
Augen ihrer Tante zog sie den Slip nach unten, setzte sich auf die Toilette und pinkelte. Es hörte sich an wie bei einem Pferd und sie musste lachen.
Tante Jo starrte sie unverwandt an, ihre hellen Augen funkelten vor Wut, das Kinn hatte sie leicht nach vorn geschoben. Doch all das beeindruckte Sim kaum. Sie zog den Slip wieder nach oben und begann, ihre Zähne zu putzen. Als sie fertig war, wollte sie in ihr Zimmer gehen, aber Jo machte ihr den Weg durch den Türrahmen nicht frei.
»Kann ich jetzt in mein Bett?«
»Nein. Ich bin noch nicht fertig mit dir.«
»Und?«
»Du hast die Regeln verletzt, Simona. Du hast mein Vertrauen missbraucht.«
Sim verdrehte die Augen. »Das hört sich an, als hätte ich ein furchtbares Verbrechen begangen. Ich habe bloß Cola getrunken. Ich hatte Durst. Ich konnte nicht wissen, dass da Alkohol drin ist.«
»Also gut«, sagte Jo und zeigte mit dem Finger auf sie. »Hör genau zu, was ich dir sage: Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du Alkohol trinkst, fliegst du auf der Stelle zurück nach Hause. Schreib dir das hinter die Ohren. Und jetzt verschwinde.«
Sim schlüpfte an ihrer wütenden Tante vorbei ins Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Schreib dir das hinter die Ohren. Da war sie wieder, die Macht der Erwachsenen. Du hast meine Regeln verletzt, also kann ich dich in die Wüste schicken. Bei ihren Eltern bestand die Strafe für ihr Vergehen darin, sie zu Tante Jo zu schicken, und Tante Jo drohte ihr damit, sie zu ihren Eltern zurückzuschicken.
Was dachten sich die Erwachsenen eigentlich dabei? Sollte dieses kindische Verhalten Vorbildwirkung haben? Sie, die einem immer ganz schnell mit ihrer tollen Lebenserfahrung kamen, hatten selbst keinen Plan. Niemand konnte ihr wirklich sagen, wie das Leben funktioniert. Sie hatten mit sich zu tun und Sim war nichts weiter als ein lästiges Problem. Weil sie nicht so funktionierte, wie ihre Eltern sie durch ihre Erziehung programmiert hatten: Abitur, Studium, Beruf, Familie. Ein Abziehbild ihres eigenen, langweiligen Lebens. Sim hatte keinen Plan für ihre Zukunft. Sie wusste nur eins. Sie wollte niemals so werden wie ihre Eltern.
Sie zog ihr Nachthemd über, rollte sich im Bett zusammen und erging sich in dem Gefühl, wie immer missverstanden zu werden. Der Abend war super gewesen, sie hatte sich großartig gefühlt und Tante Jo hatte alles kaputt gemacht. Wie sie ihre Tante kannte, würde Jimi seine Strafpredigt bekommen, und dann würde er (verständlicherweise) nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen.
Alles lief schief. Sim hatte recht gehabt mit ihrer Befürchtung: Wohin sie auch ging, ihr verkorkstes Leben nahm sie mit.
19. Kapitel
Sim war zeitig wach, aber sie wartete ab, bis ihre Tante gegen halb zehn nach unten in den Laden ging. Erst dann stand sie auf, duschte und machte sich einen Toast. Nach dem Frühstück stattete sie Juniper und ihrem Nachwuchs einen Besuch ab. Die Welpen waren enorm gewachsen in der kurzen Zeit und Juniper ließ es zu, dass Sim sich ab und zu ihren Favoriten aus dem Nest nahm, um ihre Nase in seinem weichen Fell zu vergraben.
Die Hündin vertraute ihr, zwischen ihnen gab es keine Regeln, die Verständigung funktionierte auf einer ganz anderen Ebene. Sie war ehrlicher und unkomplizierter, so wie sie nur zwischen Mensch und Tier stattfinden konnte.
Das Hündchen (ein kleiner grauer Wolf) auf ihrem Schoß fing an, durchdringend zu fiepen, und Sim setzte es zu den anderen zurück. Juniper saß hechelnd neben ihr und sie umarmte die Hündin mit einem Seufzer.
Die Tür sprang auf und ihre Tante kam heraus. »Ich fahre nach Pine Ridge einkaufen und möchte, dass du mitkommst.«
Sim starrte sie perplex an. Sie hatte sich ihren Sonntag anders vorgestellt, als ihn im Sioux-Nation- Supermarkt zu verbringen. »Ich habe keine Lust, okay?«
»Das weiß ich. Aber danach geht es ausnahmsweise mal nicht.«
Sim zog einen Flunsch.
Unvermutet lächelte ihre Tante. »Wenn du wütend bist, siehst du aus wie dein Vater, als er so alt war wie du.«
Komm mir bloß nicht so, dachte Sim.
»Du sagst, du bist kein Kind mehr, Simona. Dann benimm dich auch nicht so.« Jo lud leere Wasserkanister in den Truck und holte eine zweite Ladung aus dem Haus. Dann öffnete sie die Beifahrertür und machte eine einladende Handbewegung. »Nun steig schon ein, okay? Es ist ein ganz einfacher Deal: Ich werde deine Eltern nicht anrufen und ihnen davon erzählen, und du kommst jetzt mit. Ich will dir etwas zeigen.
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