Julischatten
überfahren. Er war auf der Stelle tot.«
Sim schluckte und dachte an das nackte Baby mit der nassen Windel in seinem Käfig aus Mülltüten. Ihr platzte der Kopf von all den furchtbaren Dingen, die ihre Tante erzählte. Vor ihren Augen hatte sie Jos Hochzeitsbild, das Lachen der beiden, der gut aussehende James mit den glänzenden Zöpfen in seinem schicken Anzug.
Unwillkürlich musste sie an Jimi denken, an seinen unwiderstehlichen Charme, mit dem er sie eingewickelt hatte. Seine Küsse, die sie bis in den Unterleib gespürt hatte. Etwas, woran sie nach der Nacht mit Cook nicht mehr geglaubt hatte.
Gegen Marthas Wohnzimmer war der Trailer, in dem Jimi und Lukas lebten, geradezu reinlich. Aber was würde in zwanzig Jahren sein? Würden die beiden dann auch in White Clay auf der Straße stehen und Fremde um ein paar Dollar für Bier anbetteln?
Nein, das konnte nicht sein. Die beiden würden sich niemals so gehen lassen. Nicht Lukas. Nicht Jimi. Sim holte tief Luft.
»Ich weiß, dass es hart ist«, sagte Jo. »Aber du musst begreifen, warum ich gestern so heftig reagiert habe.«
Sim sagte lange nichts. »Das habe ich«, erwiderte sie schließlich.
»Dann ist es ja gut.«
Sim war froh, als sie wieder auf die Zufahrt zum Horse Hill einbogen. Im Blockhaus ihrer Tante fühlte sie sich geborgen und sicher. Noch hatte sie das Erlebte nicht verarbeitet. Vor allem, dass Jo die älteste Tochter ihres Mannes nicht vom Trinken hatte abhalten können, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie konnte die Angst ihrer Tante und ihre heftige Reaktion jetzt besser nachvollziehen.
Am Abend, Jo war dabei, den Laden abzuschließen, und Sim saß auf der Treppe und spielte mit den Hundewelpen, rollte ein schwarzer Geländewagen die Zufahrt hinauf und hielt vor dem Blockhaus. Ein bärtiger Mann und eine blonde Frau stiegen aus und jemand mit so raspelkurzem blondem Haar, dass Sim zuerst an einen Jungen dachte. Als der vermeintliche Junge sich umdrehte, war der Irrtum sofort ausgeräumt. Das blonde Mädchen hatte eine Figur zum Niederknien.
Jo begrüßte die Neuankömmlinge herzlich. Sim setzte den kleinen grauen Wolf wieder zu seinen Geschwistern und ging zu den Niederländern, um sie zu begrüßen.
Das Mädchen gab Sim mit einem scheuen Lächeln die Hand. Sie hieß Roos und ihr Haar schimmerte fast silbern, so hell war es. Roos war auffallend blass und hatte dunkle Schatten unter den hellblauen Augen. Das tat ihrem guten Aussehen jedoch keinen Abbruch. Sie war eine klassische Schönheit, im Gegensatz zu ihrer Mutter Eva, die eingefallen und verhärmt wirkte. Auch Willem, der Vater, sah geschafft aus. Er trug ein grünes Hemd und Jeans, beides ziemlich chic. Vielleicht war er ein gestresster Geschäftsmann, der im Indianerland innere Einkehr suchte. Frau und Tochter machten jedenfalls nicht den Eindruck, als wäre es ihre freiwillige Entscheidung, in einem Indianerreservat Urlaub zu machen.
Jo schlug vor, dass sie ihr Gepäck ausladen und in den Trailer bringen sollten, bevor es dunkel wurde. Inzwischen würde sie das Abendessen vorbereiten.
Sim hatte kein gutes Gefühl, als die drei ihrer Tante in den Trailer folgten. So, wie sie die Blechkiste angesehen hatten, schienen sie wenig begeistert davon zu sein, darin wohnen zu müssen.
Als ihre Tante mit finsterem Gesicht wieder herauskam, war Sim klar, dass all ihre Bemühungen, den Trailer gastlich herzurichten, umsonst gewesen waren. Für Familie Van der Vaart war diese Art Ferienbehausung unter ihrer Würde.
Die Familie folgte Jo ins Haus und wenig später holten sie ihre Sachen.
Tante Jo kam zu Sim und setzte sich neben sie. »Ich tue das nicht gern«, sagte sie, »aber ich muss dich bitten, in den Trailer umzuziehen, solange die Niederländer da sind. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.«
»Der Trailer ist ihnen nicht gut genug?«
»Es läuft kein warmes Wasser, ich muss Jimi noch mal herbestellen. Aber du hast recht, es ist der Trailer an sich. Eva hat Angst vor Mäusen und Ungeziefer.«
»Aber im Trailer gibt es kein Ungeziefer und auch keine Mäuse«, entgegnete Sim empört.
»Ich weiß. Aber Sim… bitte lass dir nichts anmerken. Die Familie macht eine schwierige Zeit durch. Das Mädchen hat Leukämie und die Chemo hat nicht angeschlagen. Deshalb sind sie hier. Ihre letzte Hoffnung ist eine Heilzeremonie von einem Medizinmann. Roos ist sehr krank, die Mutter ziemlich hysterisch. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du ihnen dein Zimmer überlässt.«
Sim
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