Julischatten
dunkleren Raum, in dem es nach Urin und Fäkalien stank, nach vergammelten Essensresten und Zigarettenqualm. Der Fernseher lief, Werbung für einen riesigen SUV flimmerte über den Schirm.
Martha ließ sich auf eine schmierige Couch fallen. Jo stellte den Karton auf den vollgemüllten Klapptisch und setzte sich auf einen wackligen Holzstuhl. Sim zog es vor, stehen zu bleiben. Nur mit halbem Ohr hörte sie auf das, was ihre Tante mit der Frau sprach. Dass Sim ihre Nichte sei, wie es den Kindern gehe, solche Sachen.
Sims Blick erfasste das Ausmaß der Verwahrlosung. Das Zimmer starrte vor Dreck. Durch die Fenster gelangte kaum Licht, obwohl draußen die Sonne schien. Sie hörte ein Glucksen und entdeckte hinter einer Mauer aus schwarzen Müllsäcken ein Kleinkind mit nichts als einem nassen Windelpaket am Leib.
Zwei Kinder in schmuddeligen Hemdchen kamen ins Zimmer gestürmt. Ohne die Besucher auch nur zu bemerken, machten sie sich über den Karton mit den Lebensmitteln her. Sim schätzte sie auf sieben oder acht Jahre und sie sahen einander sehr ähnlich. Es waren ein Junge und ein Mädchen, aber das konnte man nur an der Kleidung erkennen. Das Mädchen trug Shorts, ein schmuddeliges pinkfarbenes T-Shirt und rosa Plastiksandalen. Der Junge trug nur Shorts und war barfuß.
Ihre Gesichter wirkten merkwürdig flach. Die Nasen waren kurz, die Oberlippe schmaler als die Unterlippe und ihre Augenlider hingen unnatürlich herab. Das Mädchen riss eine Schachtel mit Crackern auf und der Inhalt verteilte sich auf dem klebrigen Boden. Die Alte begann zu zetern und rappelte sich auf, um die beiden zu verscheuchen.
Antworten auf ihre Fragen hatte Jo nicht bekommen. Sims Blick irrte über die Tapetenfetzen an den Wänden, die staubigen Papierblumen, die Fotos, die schief in ihren Rahmen hingen und Bilder aus einem anderen Leben zu zeigen schienen. Da entdeckte sie das Foto, auf dem ihre Tante und ein auffallend attraktiver Mann zu sehen waren. Der Indianer steckte in einem dunklen Anzug und ihre Tante trug ein hübsches blaues Kleid. In der Hand hielt sie einen Blumenstrauß.
Was machte Tante Jos Hochzeitsbild in diesem schrecklichen Haus?
Ein Wirrwarr von Gefühlen brach über Sim herein und ihr Magen zog sich zusammen. Das war schlimmer als alles, was sie bisher gesehen und erlebt hatte.
»Besser, wir gehen«, hörte sie Jo leise sagen.
Wie betäubt folgte Sim ihrer Tante nach draußen, wo sich die beiden Kinder mit einem mageren Hündchen im Staub wälzten. Sie machte einen tiefen Atemzug und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an.
Auf der anderen Straßenseite hatten sich die Betrunkenen um den Truck geschart. Sie boten ihre Perlenarbeiten an, Ketten, Haarspangen und Ohrringe, mit glitzernden pinkfarbenen Perlen besetzt. Sim investierte einen Zehner und erstand ein paar bunt schillernde Ohrringe von einer Frau mit einem geschwollenen blauen Auge.
Ein blitzsauberes weißes Auto kam langsam die Straße entlanggerollt, und als es an ihnen vorüberfuhr, sah Sim, wie eine Frau aus dem Fenster heraus die Menschentraube fotografierte. Die Verlorenen von White Clay – eine Touristenattraktion.
Ein paar Minuten später saßen sie im Truck und der Silverado rollte gen Pine Ridge. Erst als sie die Stadt Richtung Manderson verlassen hatten, fragte Sim ihre Tante, was das Hochzeitsfoto in Marthas Haus zu suchen hatte.
»Sie ist meine Exschwiegermutter«, sagte Jo. »Die Zwillinge sind James’ Kinder, sie kamen zur Welt, während er mit mir verheiratet war. Das Kleine ist sein erstes Enkelkind.«
»Was ist mit den Zwillingen?«, fragte Sim. »Sie sahen irgendwie merkwürdig aus.«
»Sie haben das Fetale Alkoholsyndrom, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat. Ein Viertel der Kinder im Reservat wird mit FAS geboren. Wenn du einmal weißt, woran man sie erkennt, dann findest du sie überall. Schau dich nur um.«
»Kannst du denn gar nichts tun?«, fragte Sim. »Ich meine, außer ihnen eine Kiste mit Lebensmitteln zu bringen?«
Jo schüttelte den Kopf. »Ich habe es versucht, Simona. Anfangs war ich einmal im Monat bei ihnen und habe geputzt. Ich habe mich um Martha gekümmert und um James’ große Tochter Tara. Sie war so alt wie du, als wir geheiratet haben.« Jo machte ein trauriges Gesicht. »Ich konnte sie nicht abbringen vom Trinken. Sie hat es nicht verkraftet, dass ihre Eltern sich getrennt haben. Tara hat mich gehasst.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Im Gefängnis. Sie hat volltrunken einen Mann
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