Jung genug zu sterben
Seele.
»Nein, Ole geht nicht«, sagte Melina, unsicher, ob das noch dem Plan entsprach.
»Wenn Ole geht, gehe ich auch«, sagte Nathan.
Kit machte auf genervt. »Wir gehen alle. Wir holen die verdammte Mütze und gehen drüben weiter.«
»Nein«, sagte Christine, »der Weg führt hier lang.«
»Dann kommen wir eben wieder zurück«, sagte Kit. »Los, kommt!«
Christine sah sich um. »Ich hole sie nicht. Wer geht?«
»Dann gehe ich halt«, sagte Melina.
Aber sofort protestierte die Gruppe.
»Na gut«, sagte Christine. »Wenn wirklich alle gehen wollen, können wir drüben weiterlaufen. Wollen alle?«
Nicken. Keiner widersprach. Die ersten krempelten die Hosen hoch und banden die Schnürsenkel ihrer Wanderschuhe auf.
»Vorschlag!«, sagte Christine. »Reicht es nicht, wenn ein oder zwei Leute gehen?«
Ole meldete sich. »Ich bin der Einzige mit Gummistiefeln, ich mache das.«
»Dazu ist das Wasser zu tief«, sagte Melina. »Wir sollteneine seichte Stelle finden, mit Steinen. Dann können dich ein paar von uns stützen.«
So machten sie es. Die Mütze war zurück, und nur ein paar Jeans hatten kalte Wasserspritzer abbekommen. Ole tat seine Heldentat ab, Kit versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Melina schaute zu, und Christine setzte demonstrativ die halbwegs trocken gebliebene elfenbeinfarbene Kappe auf.
»Übrigens«, sagte Christine, »übrigens bin ich stolz auf euch. Noch ein bisschen, dann seid ihr eine
Gruppe
.«
»Dann ist ’ne Belohnung fällig, oder?«, fragte Nathan und versuchte, es wie eine Feststellung klingen zu lassen.
»Belohnung?« Christine sah in erwartungsvolle Gesichter. »Mäuse und Ratten und Hunde, die machen das, was man von ihnen will – sofern sie eine Belohnung erwarten. Männchen machen für ein Leckerli. Ihr wollt euch doch nicht mit solchen Tieren vergleichen.«
»Wieso nicht?«, sagte Tina. »Wenn was bei rausspringt.«
Die meisten lachten.
»Erwachsene Menschen erbringen eine Leistung, weil sie sich davon was versprechen. Sich selbst. Und warten nicht auf Belohnung. Allerdings … « Der Schnee flatschte ihr nass ins Gesicht. Sie sah auf die Uhr. »Was haltet ihr davon, wenn wir langsam zur Hütte zurückkehren? Wir könnten unser Zeug zusammenpacken und nicht erst am Abend, sondern gleich heute Mittag nach St. Moritz fahren?«
Tina sah skeptisch drein. »Und was sollen wir da?«
»Da gibt’s ein Kino.«
Die Jugendlichen waren eine Gruppe, und sie wanderten zurück. Das Kino lockte.
53
Das über mir ist eine Panzereisdecke. Die lässt kein Licht
durch. Schwarz über mir, wie ein Flugzeugträger, unter dem
ich hindurchtauchen muss.
Eine Eisscholle hat kein Ruder und keine Schiffsschraube,
das weiß ich auch. Aber hier unten klingt es nach Schiffsschrauben. Vielleicht fahren welche herum. Schiffe, U-Boote ,
die ich nicht sehe und die mich abhalten wollen, nach oben zu
kommen. Wenn ich nicht verflucht aufpasse, gerate ich in eine
von ihnen und werde zerschreddert.
Pass bloß auf! Schau in alle Richtungen, auch unter dir!
Am Rand der Rieseneisscholle ist das Licht öliggrün und trüb.
Zumindest ist es hell genug, um schwarze Schatten von Schiffen
auszumachen.
Wieso habe ich überhaupt Luft, so lange zu tauchen? Normalerweise
hätte ich längst wieder atmen müssen. Gut, es ist
eine Extremsituation, trotzdem. Wie komme ich an die Oberfläche, um Luft zu schnappen? Durch das Eis. Oder am Rand,
ohne von den Schiffen gerammt oder von ihren Wasserpropellern
zerschnitten zu werden?
Je weiter ich hochtauche, desto kleiner wird die Eisscholle.
Das entspricht doch auch nicht den Tatsachen, oder? Kleiner
und durchsichtiger. Die Ränder leuchten gelb.
Ist das Helle das Licht über dem Wasser? Tageslicht, der
Himmel? Mach! Beeile dich, schneller, die Luft in deinen Lungen
reicht nicht.
Andererseits: Ich habe es bis hierher geschafft, ich habe fast
die gesamte Panzereisscholle untertaucht. Warum sollte ich
nicht den Rest auch noch schaffen? Einfach in langen, ruhigen
Schwimmzügen. Ihnen werden die Münder offen stehen.
Über Wasser und unter Wasser. Sie werden staunen, denn damit
rechnen sie nicht. Sie glauben an meine Hektik und dass
ich in Panik Wasser schlucke, das dreckige, ölige Eiswasser.
Aber ich ziehe Stoß für Stoß weiter nach oben, in einer eleganten
Steigung, wie ein startendes Flugzeug.
Die Eisschicht lässt viel mehr Licht durch. Das liegt an der
Temperatur. Das Wasser ist nicht mehr so kalt, es ist angenehm. Sonnenlicht schlägt durch das
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